Die Luft im Zimmer war stickig. Krates öffnete die Tür in der Hoffnung, es könne dadurch so etwas wie ein Durchzug entstehen, doch der ersehnte Abendhauch blieb aus. Ungeduldig kramte er in den Unterlagen auf seinem Tisch, um eine Notiz zu finden, die er sich vergangene Woche in der Bibliothek gemacht hatte. Als er sie dort nicht fand, suchte er im Schrank und hielt plötzlich das Bild in Händen, das Agathon einst von Orthygia gezeichnet hatte. Lächelnd betrachtete er das Portrait seiner Schwester und erinnerte sich an die fernen Tage in Mallos. Orthygia und Agathon hatten sich damals unsterblich ineinander verliebt und es dauerte kein halbes Jahr, bis sie miteinander verheiratet waren. Agathon hatte sein Studium abgebrochen und war nach Mallos gezogen, wo er eine Anstellung als Sekretär fand. Gedankenverloren schüttelte Krates den Kopf und wunderte sich über den Lauf der Zeit.
Es kam ihm vor, als sei die Hochzeit erst vor ein paar Monaten gewesen, dabei lag das Ganze schon über zehn Jahre zurück. Orthygia war inzwischen zweifache Mutter, während Krates sein Studium beendet hatte und seither an der Akademie Philosophie und Rhetorik lehrte. Die meisten seiner ehemaligen Studienkollegen waren in ihre Heimatstädte zurückgekehrt. Auch Dionysios, um dessen willen Krates einst nach Tarsos gekommen war, hatte die Stadt längst verlassen, um in Rhodos seine eigene Philosophenschule zu gründen. Krates hätte ihn gerne begleitet, denn er hatte die Akademie und das Leben in Tarsos gründlich satt. Aber Dionysios hatte ihm nahegelegt zu bleiben und nun war es eh zu spät. Resigniert strich er über das Bild und legte es behutsam an seinen Platz zurück.
Die Notiz wollte sich nicht finden lassen. Verärgert über seine Unordnung kehrte er an den Tisch zurück und sortierte seine Unterlagen. Er hielt dieses Rhetorikseminar nun schon seit zwei Jahren und sollte die Inhalte eigentlich auswendig kennen. Doch Krates scheute die Routine. Er machte sich ein paar Randbemerkungen über die rhethorischen Techniken, die er mit seinen Studenten am folgenden Nachmittag besprechen wollte und nahm sich vor, den kommenden Morgen in der Bibliothek zu verbringen, um die gesuchte Textstelle noch einmal im Originalwortlaut abzuschreiben.
Als er sich von seinem Platz erhob, fiel sein Blick auf den Globus, der in der Zimmerecke vor sich hinstaubte. Er hatte sich einige Jahre mit ihm beschäftigt, als er sich für die Geographiekenntnisse Homers interessierte. Schmunzelnd hob er die Holzkugel auf und strich über die von ihm bemalte Oberfläche. An den Gedanken, die sich prompt wieder in sein Bewusstsein schlichen, merkte er, dass ihn das Thema noch immer nicht losgelassen hatte. Vor allem die Antipoden wollten ihm nicht aus dem Kopf, jene Gegenfüßler, die er am anderen Ende des Erdballs wähnte. Er hatte damals vergeblich versucht in den Geographien und Reisebeschreibungen eine Bestätigung für ihre Existenz zu finden, doch er war sich bis heute sicher, dass es sie gab. Nur wie sahen sie aus? Waren es Menschen oder Tiere? Oder waren die Antipoden gar mythische Wesen, wie sie Homer in seiner Odyssee beschrieben hatte? Ein dezentes Räuspern riss ihn aus seinen Überlegungen. Als er sich umdrehte, sah er Aristides im Türrahmen stehen.
»Guten Abend, Krates!« begrüßte ihn dieser schmunzelnd. »Es tut mir leid, wenn ich störe, aber du hast Besuch aus Mallos.«
»Aus Mallos?«
»Ein junger Mann, der nach dir fragte. Seinen Namen habe ich vergessen, aber er sagte, ihr würdet euch kennen. Er wartet vorne in der Halle.«
Gemeinsam schritten sie durch den Garten und atmeten den frischen Duft der Frühlingsblüte. Als sie den Vorplatz erreichten, kam ihnen der junge Mann bereits entgegen.
»Grüß dich, Krates«, rief er fröhlich. »Kennst du mich noch? Ich bin Zenodotos, der Sohn des Ratsherrn Stephanos.«
»Zeno!« freute sich Krates und streckte ihm die Hand entgegen. »Der kleine Zeno. Meine Güte, was bist du gewachsen. Als ich dich das letzte mal sah, warst du noch ein vorlauter Knirps, der andere mit seinen Fragen gelöchert hat.«
Zenodotos lächelte verlegen und überreichte Krates einen Brief seines Vaters, in dem ihn Stephanos bat, sich seines Sohnes anzunehmen und ihn die Wissenschaften der Akademie zu lehren. Krates freute sich über die Grüße des Ratsherren, aber auch über die Ehre, dass er ihm die weitere Erziehung seines Sohnes anvertraute. Er half dem jungen Mann seine Pferde loszubinden und begleitete ihn in den Stall. Nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, dass Zenodotos eines der Zimmer im hinteren Eckgebäude haben könne, führte er ihn durch die Akademie. Als er ihm schließlich alles gezeigt hatte, was er für den Anfang wissen musste, nahm er ihn mit in den Speisesaal und bestellte das Abendessen.
»Wie geht’s deinem Vater?«
»Oh, ich denke ganz gut. Er hat derzeit viel zu tun wegen der Streitigkeiten um das Athenaheiligtum.«
Krates schaute verwundert auf. »Wieso? Was ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht genau. Es gab da irgendeinen Krach wegen der Ländereien. Jedenfalls sind die Priester finanziell ins Hintertreffen geraten und sollen sogar in einigen Fällen zahlungsunfähig sein. Die Anleger haben daraufhin beim Stadtgericht Klage eingereicht und so muss sich jetzt die Ratsversammlung damit befassen.«
Krates schnaubte verächtlich, als er an seine eigenen Gelder dachte, die sich jahrelang in der Obhut der Athenapriester von Mallos befanden, bevor er sie Sack für Sack nach Tarsos gebracht hatte. Gut zu wissen, dachte er sich. »Und sonst?«
»Ich soll dich von deiner Schwester und von Agathon grüßen. Und natürlich auch von Mela und deinen beiden Neffen.«
Krates bedankte sich mit einem Lächeln. »Es tut immer wieder gut zu wissen, dass Orthygia den besten Mann bekommen hat, den ich mir für sie vorstellen kann.«
»Agathon hat auch hier studiert, nicht wahr?«
»Aber ja. Wir waren Zimmernachbarn und ohne ihn hätte ich das erste Jahr kaum überstanden. Er war ein guter Philosoph. Belesen und immer bereit, seinen Standpunkt zu verteidigen. Und er hat mich manches gelehrt, was mir noch heute hilft. Aber sein Herz schlug eben doch mehr für das Familienleben.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages die Ehre haben würde bei dir zu lernen.«
»Und ich hätte nie gedacht«, erwiderte Krates mit einem Augenzwinkern, »dass du deine Warnung wahrmachen und eines Tages hier aufkreuzen würdest. Nun, das neue Semester beginnt erst in einem Monat. Aber das ist für dich nur von Vorteil, denn so hast du noch genügend Zeit dich hier einzuleben.«
»Ich bin gespannt wie ein Katapult.«
»Das kannst du auch sein, Zeno. Tarsos ist ein hervorragender Ort, um zu lernen. Und wenn du deine Neugierde mit Fleiß verbindest, wirst du schon bald einen guten Philosophen abgeben.«
»Und danach?«
»Was danach?«
»Du sagtest eben, Tarsos sei ein hervorragender Ort, um zu lernen. Was kommt nach dem Lernen?«
Krates warf seinem Schüler einen amüsierten Blick zu. »Wenn man davon ausgeht, dass sich gutes Zuhören nicht nur durch das Verständnis des Gesagten auszeichnet, sondern auch durch die Aufnahme des nicht Gesagten, scheinst du mir ein verdammt guter Zuhörer zu sein. Na schön, Zeno, ich will ehrlich zu dir sein: Wie du weißt, liegt Tarsos an der Kilikischen Pforte. Und eine Pforte ist in der Regel dazu da, um durch sie hindurchzugehen … Wenn ich nur eine vernünftige Alternative hätte, würde ich keinen Moment zögern, diesen Ort endlich zu verlassen.«
»Na, da habe ich ja wohl noch mal Glück gehabt«, kommentierte Zenodotos mit gespielter Empörung. »Schließlich habe ich diese weite Reise unternommen, um bei dir zu studieren. Aber ich wünsche dir natürlich trotzdem, dass du deine Alternative findest.«
Am nächsten Morgen nahm Krates seine Wachstafeln und setzte sich in die Bibliothek. Der staubige Geruch der Papyrusrollen und der schweren Holzschränke war ihm in den letzten Jahren so vertraut geworden, dass er sich in diesen Räumen regelrecht zuhause fühlte. Das fahle Licht der Morgensonne erinnerte ihn an den lautstarken Tadel, den er sich in seinem ersten Jahr eingefangen hatte, als man ihn hier eines Abends mit einer Öllampe erwischte. Offenes Feuer, hatte ihm Kallisthenes eingeschärft, war in der Bibliothek aus brandtechnischen Gründen strengstens verboten und die Benutzungszeit daher nur auf die Stunden des Tageslichts beschränkt. Krates setzte sich an einen freien Tisch und studierte den Bericht des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg. Nachdenklich wischte er einen losen Faden vom Papyrus und konzentrierte sich auf den vor ihm liegenden Text. Als er schließlich die Stelle wiederfand, nach der er am Vorabend gesucht hatte, schrieb er sie mit gekonnten Schwüngen auf seine Wachstafeln. Dabei blieb ihm vor allem ein Satz im Gedächtnis hängen, auf den er schon vor einer Woche gestoßen war:
»Denn was plötzlich, unerwartet und gegen alle Berechnung eintritt, knechtet das Denken.«
Thukydides sprach hier einen wunden Punkt an, den nahezu jeder kannte: Nämlich die mangelnde Fähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren oder zu improvisieren, wenn sich die Dinge unerwartet anders ergeben als erhofft. Und in eben diesem Detail lag die Tücke, über die er mit seinen Studenten sprechen wollte. Entweder, so Krates’ Standpunkt, sollte man alle Eventualitäten berechnen, damit man für jeden Fall einen konkreten Plan hatte oder aber, sollte einem die erste Variante zu mühsam sein, einfach gar nichts erwarten und sich dafür in der Kunst üben jede erdenkliche Situation meisterhaft zu bestehen.
Zufrieden fügte er dem abgeschriebenen Text ein paar erläuternde Bemerkungen hinzu und klappte die Wachstafel zusammen. Als er die Bibliothek verließ, hatte sich der Himmel mit dunklen Wolken zugezogen und nach wenigen Stunden begann es zu regnen. Er ging zur Außenseite seines Zimmers, um die Fensterläden einzuhängen. Er wusste aus Erfahrung, dass sich die Gewitterböen oft in den Garten der Akademie verirrten und ein schlagender Fensterladen nicht nur nervtötend, sondern auch überaus zerstörerisch sein konnte.
Der Wind frischte zunehmend auf und fauchte in den Wipfeln der Pinien. Krates’ Seminar verlief ganz so, wie er es sich erhofft hatte. Seine Schüler hatten sich mit der Frage um die Eventualitäten auseinandergesetzt und dabei eingesehen, dass ein guter Redner nicht nur den theoretischen Wert seiner Worte einschätzen, sondern auch immer über das praktische Wissen verfügen musste, wie sich jede unerwartete Situation optimal bewältigen ließ.
Als er aus dem Seminarraum trat, traf er auf Zenodotos. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit ihm in die Berge zu reiten, doch daran war bei dem Sturzregen nicht zu denken. Statt dessen führte er ihn in eine der nahe gelegenen Tavernen. Geduckt und von einem Hauseingang zum nächsten hastend, eilten sie durch die Gässchen des oberen Peribolos und ließen sich schließlich in einer kleinen Schenke am Fuße der Akropolis nieder.
»Na, das wurde ja auch langsam Zeit«, sagte Krates, als der erste Blitz die Stadt erhellte und der kurz darauf einsetzende Donner durch die Straßen grollte.
»Sind die Unwetter hier immer so heftig?« fragte Zenodotos ehrfürchtig.
»Nicht immer, aber doch allemal stärker, als wir es aus Mallos kennen. Zumindest bedeutet ein Gewitter hier meistens, dass es kühler wird. Und das ist gut so, denn die letzten Wochen waren wirklich unerträglich.«
Zenodotos nippte an seinem Wein und wurde auf einmal nachdenklich. »Wenn du an deine letzten Jahre in Tarsos zurückdenkst, welche Erkenntnis scheint dir da am wichtigsten, um sie einem blutigen Anfänger wie mir mit auf den Weg zu geben?«
Krates überraschte die Frage, zumal er sie nicht so früh erwartet hatte, fand sie aber auch verständlich und ließ sich daher mit seiner Antwort Zeit. »Zwei Dinge«, begann er schließlich. »Du kennst sicher den berühmten Ausspruch des Bias: Erkenne dich selbst! Sich selbst zu erkennen bedeutet zu wissen, was man will und was man kann. Diese beiden Aspekte solltest du immer bedenken, denn du wirst sehen, dass sie sich im Laufe deines Lebens ständig verändern. An deinen höheren Zielen kannst du bekanntlich nichts ändern, denn die sind dir von den Göttern vorgegeben. Aber die Antwort auf die Frage, was du willst, bestimmt deinen Weg. Und die Kenntnis deiner Fähigkeiten gibt dir das Tempo vor, mit dem du deinen Weg sicher beschreiten kannst. Das einzige Geheimnis eines erfolgreichen und erfüllten Lebens besteht meiner Erfahrung nach darin den richtigen Weg zu finden und ein gutes, das heißt machbares Tempo zu wählen, das sich auch auf Dauer einhalten lässt. Das kann aber nur funktionieren, wenn du dich in den Dingen übst, die du beherrschst und keine Zeit damit verschwendest, Dinge zu tun, die dir nicht liegen. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich denke schon.«
»Außerdem solltest du dich immer an die Wahrhaftigkeit des Sokrates erinnern: Wenn ich nichts weiß, pflegte er zu sagen, weiß ich, dass ich nichts weiß. Sei also immer ehrlich zu dir selbst! Jeder Versuch irgendein Wissen aus welchem Grund auch immer vorzutäuschen, bringt dich nur auf Abwege und zögert die Erreichung deiner Ziele unnötig hinaus.«
Zenodotos brauchte eine Weile, bis er Krates’ Worte verstand. Dann nickte er und lächelte seinem Lehrer ergeben zu. Krates erwiderte das Lächeln und winkte dem Wirt für die Rechnung.
Die folgenden Tage blieben angenehm kühl. Krates übte mit Zenodotos das Gedächtnisspiel, das er einst von Agathon gelernt hatte und spürte nicht nur seine eigenen Fortschritte, sondern auch die seines Schülers, für den ja der reguläre Unterricht noch nicht einmal begonnen hatte. Am Nachmittag, wenn es keine Verpflichtungen mehr gab, ritten sie manchmal in die Berge oder streiften ziellos durch die Stadt. Zwischen ihnen lagen zwar annähernd fünfzehn Jahre, doch Krates fühlte sich immer noch jung genug, um mit seinem Schüler problemlos mithalten zu können. Und Zenodotos besaß so viele sympathische und scharfsinnige Charaktereigenschaften, dass er ihn bereits nach wenigen Wochen in sein Herz geschlossen hatte.
Eines Morgens, der Lehrbetrieb hatte schon vor ein paar Tagen geendet, war Krates mit der Korrektur seiner neuesten Abhandlung fertig geworden. Er ging in den Garten, um ein wenig frische Luft zu schnappen, als ihm Kallisthenes entgegenkam.
»Guten Morgen, Krates«, begrüßte er ihn. »Für dich ist eben dieser Brief abgegeben worden.«
Krates erbrach das Siegel und pfiff begeistert durch die Zähne. Er bedankte sich bei seinem Vorgesetzten und ließ sich mit der Schriftrolle unter dem Stamm einer Pinie nieder. Der Brief stammte von Philopatros, seinem ehemaligen Studienkollegen aus Pergamon, der ihm von den Erfolgen seiner wissenschaftlichen Laufbahn am dortigen Sanatorium berichtete. Als er zu der Briefstelle mit Philopatros’ Angebot kam, setzte er ab und schaute ungläubig auf die gegenüberliegende Gartenmauer. Dann las er den Absatz noch einmal.
Philopatros schrieb von dem neu zu besetzenden Posten des Bibliotheksleiters in Pergamon, für den er ihn gerne an König Eumenes empfehlen würde. Wenn Krates an diesem Angebot interessiert sei, möge er sich an den Gesandten Ariston wenden, der sich derzeit als königlicher Gesandter in Tarsos befände und ihm diesen Brief überbringen lassen werde. Philopatros endete mit ein paar persönlichen Grüßen und der Bitte um baldige Antwort.
Krates legte den Brief beiseite und schloss die Augen. Schon der Gedanke an Pergamon versetzte ihn in Entzücken. War das seine lang ersehnte Chance Tarsos endlich zu verlassen? Die Möglichkeit eines Tages an einer so bedeutenden Bibliothek wie der von Pergamon walten zu können, ließ ihn schwindeln. Ja, beim Zeus! Er wollte das Angebot annehmen. Er wollte weg von diesem langweiligen Ort mit seinen verschlossenen Bergbewohnern und dem ewig gleichen Trott. Für einen kurzen Moment dachte er an Zenodotos, den er doch erst vor ein paar Wochen in seine Obhut genommen hatte. Aber seine bisherigen Bemühungen waren ja nicht fruchtlos geblieben und Zenodotos hatte sich so einsichtig und erfolgreich in die Akademie eingelebt, dass er ihn guten Gewissens seinem weiteren Schicksal überlassen konnte. Wie weit mochte Pergamon von Tarsos entfernt sein? Zehn Tagesritte oder gar zwanzig? Er musste diesen Ariston finden und zwar unverzüglich.
Krates brachte den Brief in sein Zimmer und machte sich auf den Weg in die Stadt. Beim Rathaus angelangt, fragte er nach dem pergamenischen Gesandten und musste eine halbe Ewigkeit warten, bis ein Mann mittleren Alters erschien und nach seinem Begehr fragte.
»Mein Name ist Krates und ich bin Lehrer an der hiesigen Akademie …«
»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach ihn Ariston, »du bist ein Freund des Philopatros. Aber momentan passt es nicht. Wir haben gerade eine Besprechung und ich werde dort gebraucht. Kennst du den Ratsherrn Kastor?«
»Nein.«
»Dann lass dir seine Adresse geben. Ich bin heute zu einem seiner Gesellschaftsabende eingeladen. Komm einfach vorbei, sagen wir, nach Sonnenuntergang. Ich werde Kastor von deinem Besuch unterrichten.«
Am frühen Abend machte sich Krates auf den Weg zur Taurosgasse, an deren Ende der Ratsherr Kastor wohnte. Die Adresse, die ihm der Mann vom Rathaus gegeben hatte, war ein gutes Stück von der Akademie entfernt und Krates hatte sein Pferd mitgenommen, um auf dem Rückweg nicht zu Fuß gehen zu müssen. Er ritt durch den Peribolos zur alten Stadtmauer und folgte der Platanenbestandenen Allee Richtung Norden. Als er vor dem Haus angekommen und Pluto festgebunden hatte, fühlte er sich auf einmal sehr unsicher. Der Haussklave ließ sich seinen Namen nennen und kehrte kurze Zeit später mit einem stämmigen Mann zurück, der sich als Kastor vorstellte.
»Und du bist also der Lehrer Krates aus Mallos?«
»Ganz recht.«
»Na gut, mein Freund. Die Gesellschaft meiner Amtskollegen wird dir vielleicht ein bisschen fremd sein, aber du bist uns willkommen.«
Krates lachte. »Ganz so schlimm wird es schon nicht werden. Schließlich war auch mein Vater Ratsherr in Mallos.«
Kastor warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Dein Vater war Ratsherr? Wie ist sein Name?«
»Timokrates.«
»Aber nicht jener Timokrates, der vor knapp zehn Jahren gestorben ist?«
»Eben der. Kanntest du ihn?«
»Und ob!« rief Kastor. »Es gab mal eine Zeit, da hatten wir fast täglich miteinander zu tun. Und dein Vater war ein beeindruckender Mann: Tatkräftig, gebildet und mit allen Wassern gewaschen. Wirklich, ich freue mich, dich kennenzulernen.«
Als sie das Haupthaus betraten, drang ihnen der lautstarke Lärm eines angeregten Festes entgegen. Sie durchschritten den Vorraum und landeten in einem riesigen Bankettsaal, in dem annähernd zwanzig Männer lagen. Krates wurde angewiesen sich auf den letzten freien Platz neben den pergamenischen Gesandten zu legen und wurde von einem Sklaven mit Wein und Essen versorgt.
»Entschuldige die Eile von heute Vormittag«, begrüßte ihn Ariston lächelnd.
»Ich nehme an, sie war berechtigt.«
»Durchaus. Aber wie schön, dass wir uns jetzt hier wiedersehen. Ich soll dich natürlich von Philopatros grüßen. Sein Angebot wirst du inzwischen ja wohl gelesen haben.«
»Das habe ich.«
»Und? Was hälst du davon?«
Krates seufzte. »Ich wünschte, wir könnten noch heute aufbrechen. Aber so einfach ist das nicht. Ich vermute, dass der Weg nach Pergamon sehr weit ist. Ich müsste hier alle Zelte abbrechen und mein Vermögen über Land transportieren. All das braucht Zeit, vor allem aber die Gewissheit, dass es nicht umsonst ist.«
Ariston nickte verständnisvoll. »Philopatros’ Vater steht dem König sehr nahe und hat genügend Einfluss, um dir die Stelle zu sichern, wenn du sie haben willst.«
»Ich will schon. Aber wie geht es dann weiter?«
»Nun, wir werden morgen nach Pergamon aufbrechen. Unsere Gesandschaft braucht für die Strecke zwei Wochen. Wenn du dagegen mit den Karawanen ziehst, und das wird wohl die einzige Möglichkeit sein dein Vermögen sicher nach Pergamon zu bringen, solltest du mindestens einen Monat einkalkulieren. Zuhause werde ich dann Philopatros von deiner Zusage unterrichten und gemeinsam mit seinem Vater auf Eumenes einwirken dir die Stelle zuzusichern. Sobald seine Entscheidung gefallen ist, werden wir dir einen Boten senden. Und du wirst sehen, Krates: Pergamon ist wunderschön. Vor allem aber wird es dich mehr fordern als Tarsos.«
Auf dem Rückweg zur Akademie ließ Krates den Abend noch einmal an sich vorüber ziehen. Während er dem gleichmäßigen Hufschlag seines Pferdes lauschte, der durch die nächtlichen Gassen hallte, ahnte er, dass Kastor eine wesentlich wichtigere Rolle spielen könnte, als er anfangs gedacht hatte. Wollte Krates tatsächlich noch in diesem Jahr nach Pergamon gelangen, musste er sich mit dem tarsianischen Ratsherren gutstellen. Und das fiel ihm nicht einmal schwer.