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Kapitel 1

Es war noch früh, als der gut gekleidete Junge über den Marktplatz schlenderte und sich am Ende der heiligen Stoa unter einem alten Olivenbaum niederließ. Die Strahlen der über dem Golf von Issos aufgehenden Sonne tauchten die Dächer von Mallos in ein golden gleißendes Licht und warfen lange Schatten über den gepflasterten Markt. Er liebte diese frühen Stunden, wenn die Straßen und Plätze seiner Vaterstadt noch so ruhig waren, dass man die Vögel zwitschern hören konnte. Er liebte die Atmosphäre, wenn die Häuser langsam zum Leben erwachten und die Bauern auf dem Markt ihre Stände aufbauten, um wie jeden Tag in Mallos die Früchte ihrer Landarbeit zu verkaufen. In diesen Stunden schien sich das große Rad der Zeit so viel langsamer zu drehen als über den Rest des Tages, wenn die Straßen mit Fuhrwerken verstopft waren und sich auf dem Marktplatz laut feilschende Händler und diskutierende Männer drängten.

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Gedankenverloren saß er unter dem Baum, betrachtete die Scherben eines zerbrochenen Weinkrugs und ritzte mit einem Stöckchen geometrische Figuren in den Staub.
»He, Krates. Kann man dir irgendwie helfen?«
Krates fuhr herum und erkannte seinen Freund Hippias, der verschmitzt lächelnd am Baum lehnte und auf einem Stöckchen kauend die Staubzeichnungen musterte.
»Ach, ich weiß nicht recht«, erwiderte Krates schulterzuckend. »Ich versuche hier verzweifelt den Inhalt einer Vase zu berechnen. Aber ich komme nicht auf die Formel.«
»Meine Güte!« lachte Hippias. »Wozu machst du das demm bloß?«
»Kennst du den alten Hyperides?«
»Den Vasenmaler?«
»Genau den. Der soll ein paar Mischkrüge herstellen, von denen die einen genau die doppelte Menge aufnehmen sollen wie die anderen. Ich war neulich zufällig dabei, als er sich maßlos darüber aufregte, weil das seiner Meinung nach unmöglich sei. Ich dagegen bin fest davon überzeugt, dass man so etwas berechnen kann. Irgendwie muss es gehen.«
Hippias nickte und setzte sich zu ihm unter den Baum. Gemeinsam fügten sie die Scherben so gut es ging wieder zusammen und brüteten über der komplizierten Volumenberechnung. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Theorien des Eukleides mit denen des Eudoxos von Knidos zu vereinen und sich dem Oval des Vaseninneren über eine Halbkugel anzunähern, auf der ein halbes Ellipsoid aufsitzt.
Nach wenigen Stunden war die Fläche unter dem Baum von Bodenzeichnungen übersät und die Lösung auf einer der Scherben eingeritzt. Sie hatten es geschafft, den Inhalt des Mischkruges zu berechnen und eine Formel aufzustellen, nach der die Maße für zwei weitere Gefäße feststanden, die den halben, bzw. doppelten Inhalt des ersten Kruges aufnehmen konnten. Stolz gingen sie zur Werkstatt des Hyperides und präsentierten dem erstaunten Meister ihre Lösung.
Hyperides hörte den Jungen aufmerksam zu und schüttelte belustigt den Kopf. »Nun«, sagte er schließlich, »ich werde eure Zauberformel ausprobieren. Und wenn es mir gelingt, sie sinnvoll umzusetzen, dürft ihr euch sogar einen meiner Weinkrüge aussuchen. Doch jetzt muss ich wieder an meine Arbeit.«
Sie verließen die Werkstatt und gingen zurück auf den Markt, wo das Treiben mittlerweile in vollem Gange war. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und über der Stadt lag die für die Mittagszeit typische Wolke aus Rauch und Staub. Vom Gedränge und dem Geschrei der Handeltreibenden müde, bahnten sie sich ihren Weg durch die Viehhändler und Obstverkäufer und liefen zu den Stadtmauern.
Am Stadttor war es relativ ruhig. Die meisten Bauern aus dem Umland befanden sich ja in der Stadt, so dass die Wächter und Zöllner nicht mehr zu tun hatten als im Schatten des Torvorhofes zu stehen und vor sich hinzudösen. Schweigend nickten sie den Jungen zu, als diese das Doppeltor passierten und einen vorbeifahrenden Händler fragten, ob er sie auf seinem Wagen mit nach Magarsa nehmen würde, den alten Hafen von Mallos.
Der Mann ließ sie hinten auf seinem Wagen Platz nehmen und trieb seine Pferde an. Die Straße war wie leergefegt. Ab und an wirbelten kleine Staubwölkchen über das Pflaster und nahm den Jungen die Sicht auf das Meer. Draußen, vor dem Kap von Magarsa schien der Wind wesentlich kräftiger zu wehen, denn das Sonnenlicht brach sich in den Wellen und verursachte auf der unter ihnen liegenden Bucht ein endloses Glitzern. Zufrieden genossen sie den Fahrtwind und blickten dabei auf die kilikische Küste, die am westlichen Horizont im Dunst verschwand.
»Soloi da drüben ist kaum noch zu erkennen bei dem Dunst heute«, bemerkte Hippias. »Du bist doch mal da gewesen, oder?«
»Ja, sogar mehrfach. Mein Vater hat mich manchmal mitgenommen, wenn er geschäftlich dort zu tun hatte. Und die Stadt ist schön. Außerdem hat sie ein paar wirklich gute Leute hervorgebracht.«
»Was meinst du denn mit guten Leuten?«
»Na ja, Philosophen, Mathematiker, alle möglichen Wissenschaftler von Rang und Namen. Mein Lehrer Myron hat mir viel davon berichtet. Die meisten Gelehrten aus Soloi waren am Museion von Tarsos. Und wer in Tarsos studiert hat, hat bekanntlich die besten Aussichten auf eine glanzvolle Karriere. Chrysippos ist da wohl das beste Beispiel.«
»Wer bitte?«
»Chrysippos. Er war einer der bekanntesten Philosophen der letzten Jahrzehnte und er wurde in Soloi geboren. Später studierte und lehrte er am Museion von Tarsos und wurde schließlich nach Athen gerufen, um dort die Leitung der stoischen Schule zu übernehmen. Pah, eine größere Ehre kann man wohl kaum erfahren.«
»Pff, Philosophen …«, sagte Hippias verächtlich, doch Krates ließ sich nicht beirren.
»Oder nimm Aratos«, fuhr er fort, »den großen Mathematiker und Astronomen, ohne dessen Vorarbeit du auf deinen Lösungsansatz von vorhin gar nicht erst gekommen wärest.«
»Ja, Aratos sagt mir was. Und was soll mit dem sein?«
»Naja, auch Aratos kam aus Soloi. Auch er studierte am Museion von Tarsos, bevor er nach Makedonien aufbrach, um seine Arbeiten am Hofe des Königs Antigonos fortzuführen.«
»Na gut«, brummte Hippias, der sich etwas schwer damit tat, sich von seinem jüngeren Freund belehren zu lassen, »das habe ich nicht gewusst. Aber wer stellt sich schon freiwillig in den Dienst eines Königs? Ich jedenfalls würde keinen Palast der Welt gegen meine Vaterstadt eintauschen.«
»Dann hast du deine Entscheidung offensichtlich schon getroffen. Also, ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden würde, wenn man mir die Wahl ließe.«
»Na ja …« grinste Hippias seinen jungen Freund an. »Dazu bleibt dir ja auch noch genügend Zeit.«
Als sie die ersten Häuser von Magarsa erreichten, hielt der Händler an und ließ die Jungen aussteigen. Sie bedankten sich für die freundliche Mitnahme und wandten sich zum Hafen. Vor ihnen lagen bereits die Hafenmagazine und an den dahinter liegenden Kais sahen sie die Fischerboote, die im Hafenbecken vor sich hindümpelten. Sie setzten sich auf die alte Mole und warfen Steine ins Wasser. Schweigend genossen sie die kühle Meeresluft, während sie den Fischern beim Flicken ihrer Netze zuschauten.
»Weißt du etwas Neues über den Magarsa-Beschluss?« fragte Hippias.
»Mein Vater erzählte mir, dass sich die Diskussion ziemlich festgefahren habe. Er ist ja der strikten Überzeugung, dass wir den Hafen schützen müssten. Doch einige Ratsherren sind immer noch der Meinung, man solle die Stadtkasse nicht wegen ein paar Piraten plündern.« Krates seufzte. »Ich habe leider keine Ahnung, wie groß die Gefahr wirklich ist. Wie denkst du denn darüber?«
»Nun, ich denke schon, dass ein Schutz für Magarsa nicht verkehrt wäre. Bisher ist immer alles gut gegangen. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das noch lange so bleibt. Schau«, sagte Hippias und machte dabei eine ausladende Bewegung, die den gesamten Horizont umfasste, »drüben in Pamphylien haben sie ihre Ordnung und auch in Syrien herrschen klare Verhältnisse. Doch wir sind frei und relativ wohlhabend zugleich. Während der Königsherrschaft war dieser Teil des Meeres durch die seleukidische Flotte geschützt. Doch seit dem Frieden von Apamea ist es damit vorbei.«
»Stimmt«, schnaubte Krates. »Ganze zehn Schiffe haben sie ihnen gelassen. Keine sonderlich überzeugende Streitmacht.«
»Na ja, die Römer werden ihre Gründe gehabt haben. Aber was hilft uns das, wenn sie nicht da sind? Zumal doch dieser Zustand des Machtvakuums auf jeden Despoten wie ein Magnet wirkt.«
»Glaubst du wirklich, dass wir Ärger bekommen?«
»Ich weiß es nicht und ich will auch keine unnötigen Ängste verbreiten. Aber ich frage mich, warum uns die Piraten verschonen sollten. Mein Onkel erzählte mir von verschiedenen Fischerdörfern im Rauen Kilikien, die von den Seeräubern überfallen worden sind. Sie haben sich einfach genommen, was sie haben wollten, und sind wieder abgezogen. Die meisten Dorfbewohner haben sie verschleppt und in Side als Sklaven verkauft. Das heißt zwar noch lange nicht, dass auch uns etwas Ähnliches bevorsteht. Aber es besteht doch immerhin die Gefahr.«
»Side …«, sagte Krates nur und spuckte verächtlich ins Wasser. Die ferne Hafenstadt war berüchtigt für ihren Sklavenhandel und jeder ehrliche Seefahrer umfuhr es gewöhnlich mit einem Riesenbogen.
»Doch soweit muss es ja gar nicht kommen«, nahm Hippias seine Überlegung wieder auf. »Schon Magarsa bietet alle Möglichkeiten, nach denen ich mir als Seeräuber die Finger lecken würde: Es hat einen geschützten Hafen und eine weite Sicht auf das Meer und den Golf von Issos. Wer immer sich in die Nähe der Küste wagt, ist von hier aus zu sehen. Man braucht sich nur auf die Lauer zu legen und die Beute einzusammeln.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ach Krates«, lachte Hippias, »denk doch mal nach! Im Rathaus palavern sie immer nur über die Gefahr eines Überfalls mit Raub und Versklavung. Aber an die Möglichkeit, dass sich die Piraten vielleicht einfach nur hier einnisten wollen, denkt niemand. Dabei wären die Folgen langfristig genauso fatal. Wir hätten den Hafen verloren und den Feind vor den Toren. Mit einer anständigen Befestigung könnte man wenigstens versuchen, die Piraten vom Hafen fernzuhalten.«
Einer der Fischer, der in der Nähe seine Netze reparierte und ihrem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, nickte ihnen mit ernster Miene zu. »Muss ja nichts Großes sein. Nur ein paar starke Mauern an der Mole, vielleicht eine Kette für die Hafeneinfahrt und zwei, drei Katapulte. Das würde doch schon reichen.«
»Also, vom Kriegführen verstehe ich nichts«, meinte Krates. »Aber den Gedanken der Besetzung solltest du einmal meinem Vater erzählen.«
»Ach, das kannst du auch selbst tun«, erwiderte Hippias und ließ einen flachen Stein übers Wasser hüpfen.
»Stimmt«, nickte Krates und musste plötzlich schmunzeln. »Ich habe übrigens neulich ein lustiges Paradoxon gehört, das mir Lysander, der Apfelverkäufer vom Markt erzählt hat. Ein verzwicktes Ding! Also pass auf: Wenn ich dir jetzt sage, ‚Der Himmel ist wiesengrün, und das ist gelogen.‘ Entspricht das der Wahrheit oder ist die Aussage falsch?«
Hippias kratzte sich am Kopf und lächelte, denn er fand das Rätsel lustig. »Aber das ist doch eigentlich ganz einfach«, sagte er. »Die Aussage der Vorankündigung, dass du lügst, entspricht der Wahrheit. Die Aussage der Lüge aber bleibt die Unwahrheit, selbst dann, wenn du sie vorher als solche angekündigt hast. Also hast du gelogen. Zufrieden?«
»Nein«, versuchte Krates seinen Standpunkt zu verteidigen. »Mir geht es um das Ganze. Ist die ganze Aussage richtig oder falsch?«
»Aber das ist doch Blödsinn, Krates. Wie willst du denn zwei Aussagen zu einer einzigen machen? Das geht doch gar nicht.«
Krates schüttelte ärgerlich den Kopf. »So werden wir das Rätsel niemals lösen.«
»Aber wir haben es doch schon gelöst,« lachte Hippias. »Was verschwendest du deine Zeit mit diesem Unsinn?«
»Das ist kein Unsinn, sondern Philosophie.«
»Mag ja sein«, spottete Hippias. »Aber was bringt dir denn die Philosophie? Mit Formeln wie der, die wir uns für Hyperides ausgedacht haben, kommst du doch viel weiter.«
»Na, da ist Lysander aber anderer Meinung.«
»Hört, hört«, höhnte Hippias, »ist Lysander jetzt dein neuer Lehrer? Der Apfelbauer vom Phylionberg? Was lehrt er dich denn? Die Anomalie von Äpfel und Birnen?«
Krates schüttelte ärgerlich den Kopf und stand auf. »Du verstehst das nicht.«
»So«, erwiderte Hippias gereizt, der nun ebenfalls aufgestanden war, »du meinst also, ich verstehe das nicht. Weißt du was, Krates? Manchmal verstehe ich dich nicht.«
»Das musst du ja auch nicht.«
Krates war jetzt wütend. Er zurrte sein Gewand zurecht und stapfte gekränkt die breite Straße nach Mallos zurück. Freilich, Hippias war ein netter Kerl, aber seine herablassende Art konnte ihn manchmal zur Weißglut bringen. Und überhaupt: Seit wann war die Philosophie etwas Unsinniges? Als er hinter sich das Rattern eines Wagens hörte, winkte er dem Bauern auf dem Kutscherbock und ließ sich wieder zurück in die Stadt mitnehmen.
Als er das Haus seines Vaters erreichte, schlug ihm der Duft von Linsen und Speck entgegen. Er folgte ihm in die Küche, wo ihn die alte Hausdienerin begrüßte.
»Krates, mein Junge, wo bist du denn nur gewesen? Dein Vater fragte nach dir und deine Schwester hat dich gesucht.«
»Ich war auf dem Markt, Mela. Und danach unten am Hafen.«
»Am Hafen?«, wiederholte sie ungehalten. »Du weißt, dass es dein Vater nicht gerne sieht, wenn du bei wildfremden Bauern mitfährst. Und bei Hestia, und was hast du nur mit deinem Gewand gemacht? Ganz schmutzig ist es geworden. Wo hast du dich wieder hingesetzt, Krates?«
»Auf den Boden«, antwortete er und fügte mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »In Gaias Schoß.«
»Mach dich nicht über die Götter lustig! Denk an Prometheus.«
»Ach, Mela«, protestierte Krates, »hör mir doch auf mit Prometheus. Erstens bin ich nicht Prometheus, zweitens ist die Prometheussage ein Märchen und außerdem hat Prometheus ein Unrecht getan. Was aber ist Unrechtes daran, sich in Gaias Schoß zu setzen?«
»Bei allen Göttern«, entfuhr es der Dienerin, »du wirst es wohl nie begreifen. Aber an mich denkst du auch nicht, denn ich muss deine Kleider immer waschen. So jedenfalls kannst du nicht rumlaufen. Was sollen denn die Leute denken?«
»Gibt es heute Linsen?« versuchte Krates abzulenken.
»Du sagst es. Aber erst, wenn du dir einen anderen Mantel umgehängt hast.«
»Schon gut«, besänftigte sie Krates und wandte sich zum Haupthaus. Die gute, alte Mela. Er kannte sie seit seiner Geburt, aber sie war viel mehr als nur seine Amme. Sie kochte und wusch die Wäsche, sie kaufte für die Familie ein und besorgte all die Dinge, die für den Haushalt wichtig waren. Krates hatte sie nie danach gefragt, wie alt sie sei, und auch über ihre Herkunft wusste er nichts. Er ahnte jedoch, dass Mela nicht immer unfrei gewesen sein konnte, und wollte ihr mit seinen Fragen nicht wehtun. Sein Vater behandelte sie gut und Krates wusste, dass sie einige Freiheiten genoss, von denen andere Bedienstete in Mallos nur träumen konnten. Und sie war sicherlich der frommste Mensch, dem er je begegnet war, obwohl sich ihr Glaube allzu oft mit Aberglauben vermischte und Krates seine Mühe hatte, sie dafür nicht zu belächeln.
»Da bist du ja«, hörte Krates seine Schwester rufen, die gerade aus dem Haupthaus trat. »Wo warst du denn? Vater und Myron haben dich gesucht, weil sie irgendetwas mit dir besprechen wollten.«
»Grüß dich, Orthygia. Ich war mit Hippias am Hafen. Ist Myron noch in der Nähe?«
»Nein, er ist wieder gegangen. Aber er lässt dich grüßen und bat darum, dass du zu ihm kommst. Ich nehme an, er ist jetzt wieder zu Hause.«
Krates dankte ihr und ging in sein Zimmer. Mela und die Leute konnten von ihm denken, was sie wollten, aber vor seinem Lehrer hatte er genügend Respekt, um ihm nicht mit schmutzigen Kleidern unter die Augen zu treten.
Als er kurz darauf in die Athenastraße einbog, stand die Sonne schon tief. Möwen kreisten über der Akropolis und die rege Betriebsamkeit der Stadt legte sich allmählich zugunsten der friedlichen Abendstimmung.
Krates erreichte das Haus seines Lehrers und klopfte an die bronzebeschlagene Tür. Myron war schon ein alter Mann, der trotz seines Wohlstands keine Sklaven oder Haushaltshilfen besaß. Er war bescheiden und als Gelehrter in der Stadt allgemein respektiert. Er öffnete die Tür und sah seinen Schüler prüfend an. Dann bat er ihn, einzutreten und sich auf einem der Kissen im Hof des kleinen Hauses niederzulassen.
»Schön, dass du gekommen bist«, begann er das Gespräch. »Doch bevor wir anfangen, sag mir, worüber du dich geärgert hast.«
Krates war schon zu lange Myrons Schüler, um sich noch von seiner Menschenkenntnis überraschen zu lassen.
»Über das Urteil eines Freundes, Meister.«
Myron lächelte seinen Schüler mitfühlend an und forderte ihn mit einem leichten Kopfnicken auf fortzufahren.
»Wir rätselten über ein Paradoxon, das du wahrscheinlich kennst. Es geht um die Wahrhaftigkeit eines Menschen, der zugibt zu lügen. Hippias sagte, die Paradoxa seien Unsinn, weil sie zu nichts führten und nur verschwendete Zeit seien.«
»Und du bist da anderer Meinung?« fragte Myron.
»Aber ja!« bekräftigte Krates. »Ich gebe zu, dass ich von den Paradoxa nicht viel weiß, so gut wie gar nichts, um ehrlich zu sein. Aber sie sind unbestritten ein Teil der Philosophie. Und die Philosophie ist meiner Erfahrung nach weder Unsinn noch Zeitverschwendung.«
Myron lächelte in sich hinein. »Ich weiß ja nicht, wie das vorhin gewesen ist. Aber kein Mensch kommt von sich aus auf die absurde Idee zu behaupten, die Philosophie sei Unsinn. Das kann nur einer sagen, der keine Ahnung hat. Oder aber einer, der seinen negativen Gefühlen Luft machen will. Ich nehme an, dass beides der Fall war, und das würde bedeuten, dass du in deiner Begeisterung ein bisschen zu sehr darauf bedacht warst, Recht zu behalten. Kann das sein?«
Krates wurde nachdenklich. »Das ist durchaus möglich.«
»Und wäre es auch möglich, dass dein Freund älter ist und von der Philosophie nicht annähernd halb so viel versteht wie du?«
Krates lächelte verlegen, denn ihm wurde nun klar, was sein Lehrer ihm zu erklären versuchte. »Ja, auch das ist richtig.«
Myron nickte. »Siehst du, Krates, keiner lässt sich gerne belehren und schon gar nicht von einem Jüngeren.«
»Aber wie hätte ich das vermeiden können?«
»Oh, da gibt es eine Menge Möglichkeiten, aber die erörtern wir ein andermal. Lass uns jetzt lieber zu einem Thema kommen, über das ich heute Morgen mit deinem Vater gesprochen habe.«
Myron schaute seinen Schüler lange an, bevor er fortfuhr. »Ich unterrichte dich jetzt seit fünf Jahren, Krates, und ich kann wohl guten Gewissens sagen, dass du zu meinen besten Schülern zählst. Du begreifst sehr schnell und kannst dich gut ausdrücken. Ich will mich nicht in ein schlechtes Licht rücken, aber ich glaube, dass du von anderen Gelehrten mehr wirst lernen können als ich dir noch beibringen kann. Deshalb möchte ich, dass du bald nach Tarsos gehst, um dort bei Dionysios Thrax zu studieren.«
»Dionysios?« entfuhr es Krates. »Dem Dionysios Thrax, der die Homerika analysiert hat?«
»Ich wusste, dass du dich an ihn erinnern würdest. Dionysios ist ein alter Schüler von mir. Wir trafen uns damals in Alexandria, als ich am Hofe von König Ptolemaios lehrte. Als ich nach Mallos zurückkehrte, hatte er sein Studium beendet und hielt seine ersten Vorlesungen. Doch wie ich hörte, weilt er seit geraumer Zeit in Tarsos und wird dort für unterrichtet für einige Jahre am dortigen Museion.«
Krates verschlug es den Atem. Hatte er richtig gehört? Er sollte in Tarsos studieren? Und dann auch noch bei einem so berühmten Mann wie Dionysios?
»Ich habe darüber heute Morgen mit deinem Vater gesprochen, und er zeigte sich einverstanden. Dionysios wird dir gefallen; er ist ein sehr strenger, aber auch lebensfroher Lehrer, mit dem man gut zechen und zu den entlegensten Zeiten philosophieren kann. Außerdem ist er ein exzellenter Analogiker.«
»Oh Myron«, stammelte Krates, dem vor Glück die Worte fehlten.
»Schon gut, mein Junge. Über alles Weitere unterhalten wir uns besser mit deinem Vater. Ich schlage vor, dass wir uns morgen noch einmal zusammensetzen.« Damit erhob er sich und begleitete seinen Schüler zur Haustür.
Die Sonne war gerade dabei hinter den Bergen von Soloi unterzugehen und das Meer in orangerot zu entflammen, doch Krates sah nichts von alledem. Die Formel für Hyperides und sein Streit mit Hippias waren vergessen und er dachte nur noch an die Option, nach Tarsos zu gehen, um bei Dionysios Thrax zu studieren. Er hatte schon so viel von dieser Stadt gehört und war doch nie dagewesen, obwohl sie nur eine Tagesreise von Mallos entfernt lag. Wo würde er dort leben? Und wie würde es sein, bei Dionysios zu lernen?
Als er nach Hause kam, empfing ihn sein Vater mit einem breiten Lächeln.
»Wie ich sehe, hast du mit Myron gesprochen.«
»Das habe ich.«
»Und man sieht dir auch an, dass du seinem Vorschlag nicht abgeneigt bist. Na gut, mein Sohn, dann lass uns überlegen, wie wir diesen Plan in die Tat umsetzen.«