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Kapitel 8

Kurz nach Sonnenaufgang ging Krates zu den Athenapriestern. Auch das Heiligtum war durch das Erdbeben stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Umfassungsmauer war ebenso beschädigt wie einige der Nebengebäude und der Tempel musste wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. Nur das Schatzhaus war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Zu seinem Erstaunen erfuhr Krates, dass die Priester neben den vierzigtausend Drachmen seines Vaters auch einen weiteren Posten über achtundzwanzigtausend Drachmen verwahrten, die ihm sein Lehrer Myron testamentarisch vermacht hatte. Da Myron das Erdbeben bekanntlich nicht überlebt habe, könne Krates die komplette Summe am nächsten Tag abheben. Er bedankte sich für die Auskunft und verließ eilig das Heiligtum.

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Einem inneren Impuls folgend zog es ihn in die Athenastraße, wo die Zerstörungen besonders schlimm waren. Kaum eines der Häuser hatte den Erdstößen Stand halten können und so fand er an der Stelle, an der das kleine Haus seines Lehrers gestanden hatte, nur noch Schutt und Asche. Niedergeschlagen stand er an den steinernen Türpfosten, vor denen die zerschmetterte Tür mit den Bronzebeschlägen lag. Er kletterte über den Schutt, bis er vor der alten Pinie im Hof stand, die nun von Trümmerbergen umringt war und das Erdbeben als einzige unbeschadet überstanden zu haben schien. Wehmut stieg in ihm auf, als er in der Nähe des Haupthauses die Reste des Weinkrugs entdeckte, den er Myron damals zum Abschied geschenkt hatte. Er bückte sich und hob eine der Scherben auf, auf denen sich das Vasenbild erhalten hatte. Traurig wischte er den Staub vom Gesicht des Satyrn und steckte die Tonscherbe in seine Manteltasche. Dann wandte er sich ab und verließ die Ruine.
Am Marktplatz, auf dem trotz der ihn umgebenden Not weiter gehandelt wurde, blieb er stehen und blickte traurig auf das friedlich glitzernde Meer. Myron und Timokrates hatten ihn quasi über Nacht zu einem der reichsten Studenten von Tarsos gemacht. Doch wie sollte er sich darüber freuen? Krates haderte mit seinem Schicksal und hätte am liebsten laut losgeschrien, aber was hätte das schon geändert. Er machte
sich auf die Suche nach Hippias und die Furcht, auch diesen Freund verloren zu haben, machte ihn fast wahnsinnig. Doch am Gymnasion, dessen Eingang nur noch über einen schmalen Pfad beiseite geräumter Trümmerteile erreichbar war, wurde er schnell fündig.
»Krates!« rief Hippias erleichtert, als er ihn im Vorhof des Gymnasions erkannte. »Krates, mein Freund! Was bin ich froh, dich zu sehen.«
Sie umarmten sich stürmisch und blickten einander lachend in die Augen. Hippias verabschiedete sich von den anderen Ringkämpfern und begab sich mit Krates in eine nahe gelegene Taverne. Er drückte ihm sein Beileid aus, doch Krates erzählte von der epikureischen Einstellung, die ihm bei der Trauer um seinen verstorbenen Vater so sehr half. Dann musste er ihm alles über seinen Start in Tarsos erzählen. Hippias berichtete ihm im Gegenzug von den Schrecken des Erdbebens, vom Baubeginn der Befestigungsanlagen in Magarsa und seinem neu erwachten Interesse für den Ringkampf. Es wurde ein herzliches Treffen, das Krates wieder aufmunterte und ihm das Gefühl verlieh, Mallos nie verlassen zu haben.
Als er wieder nach Hause kam, fiel ihm gleich das reparierte Dach ins Auge. Hier und dort glänzten neue Ziegel im Verband, die Mauerrisse am Haupthaus waren frisch verputzt und selbst die beschädigten Partien im Hofpflaster sorgsam ausgebessert. Krates ging in die Küche und fand Orthygia und Agathon Arm in Arm auf der Holzbank sitzen, während Mela mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt war. »Na«, sagte er verwundert, »ihr beiden scheint euch ja gut zu verstehen.«
Orthygia errötete, doch Agathon lachte nur.
»Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?«
»Ich war bei den Priestern und bei einem alten Freund. Und ihr?«
»Wir waren auf der Agora und haben Proviant eingekauft, damit wir übermorgen nicht zu verhungern brauchen.«
»Ich fürchte übrigens, dass ich ein kleines Problem habe. Ich würde mein Geld gerne mit nach Tarsos nehmen, aber es sind fast vierzehntausend Goldmünzen. Hast du vielleicht eine Idee, wie ich das machen soll?«
Agathon pfiff durch die Zähne. »Vierzehntausend? Vergiss es, das schaffen wir nie. Allein für das Gewicht der Münzen müsstest du dir zwei Pferde kaufen, von den Scherereien mit den Zöllnern ganz zu schweigen.«
Krates schüttelte frustriert den Kopf.
»Nimm doch nur einen Teil davon mit«, schlug Orthygia vor. »Du wirst eh nur eine kleine Summe brauchen und das Geld auch in Tarsos wieder bei den Priesten deponieren, oder? Was macht es da für einen Unterschied, ob dein Vermögen nun hier oder dort liegt?«
Am nächsten Tag ging er mit Agathon zum Athenatempel und hob dort fünftausend Drachmen ab. Sie verstauten die tausend Goldmünzen in einer Holzkiste und brachten sie nach Hause. Anschließend machten sich auf den Weg zum Markt, wo sie vier feste Leinensäcke, Baumwolle, Tuch und Stroh besorgten, mit dem sie die Säcke in den Nachmittagsstunden weitgehend schalldicht isolierten. Als sie die Goldmünzen auf die vier Säcke verteilt und diese zugeschnürt hatten, stemmte Agathon einen von ihnen in die Luft und warf ihn mit voller Wucht auf den Boden. Zufrieden stellten sie fest, dass die Goldmünzen tatsächlich keinen Klang abgaben und daher den Inhalt der Säcke nicht verrieten.
Ihr letzter Abend in Mallos war lang und traurig. Orthygia klammerte sich an Agathon und Mela konnte sich an Krates und den beiden nicht sattsehen. Nach einer kurzen Nachtruhe sattelten sie wieder ihre Pferde und nahmen Abschied. Krates drückte Mela und seine Schwester fest an sich und sah mit einigem Erstaunen, dass sich Agathon und Orthygia innig umarmten und küssten. Schließlich krähten die ersten Hähne und sie begaben sich auf ihren langen Weg in die Dunkelheit.
Lange Zeit, ja eigentlich bis zu ihrer ersten Rast an der Furt über den Saros waren sie schweigend geritten, jeder in seinen eigenen Gedanken und mit der zunehmenden Kälte beschäftigt. Als sie jedoch die Pferde anleinten und den Proviant aus den Säcken holten, nahm Agathon seinen Freund bei den Schultern und blickte ihn strahlend an.
»Beim Zeus«, rief er begeistert, »was für eine Frau!«
Krates begegnete ihm mit besorgter Miene. »Ich freue mich für dich, wirklich. Und ich freue mich auch für Orthygia. Aber ich möchte, dass du mir eines versprichst.«
»Was immer du willst«, sagte Agathon beherzt und breitete eine Decke auf den Boden, damit sie sich nicht auf die kalten Steine setzen mussten.
»Orthygia bedeutet mir sehr viel. Wenn du sie verletzt, wirst du auch mich verletzen, hörst du? Also spiel nicht mit ihr.«
Agathon lächelte ihm verständnisvoll zu. »Sei unbesorgt! Auch mir bedeutet sie so viel, dass ich es mir nie verzeihen würde.«
Krates erwiderte das Lächeln und horchte auf, weil die Pferde wieherten. Der Himmel hatte sich plötzlich zugezogen und es begann zu regnen. Eilig verschlangen sie ihre Brote, packten ihre Sachen zusammen und durchquerten anschließend den Fluss. Während der folgenden Stunden regnete es wie aus Kübeln und je näher sie den Bergen kamen, desto kälter wurde es. Agathon gab Krates ein Zeichen, er möge absitzen und sein Pferd eine Weile am Zügel führen, damit er sich durch die Bewegung wieder aufwärme. Der Wind hatte mittlerweile aufgefrischt und wehte ihnen den Schnee direkt ins Gesicht. Wieder und wieder mussten sie ihren Marsch unterbrechen, weil der Weg unter dem endlosen Weiß verschwand. Krates war schon kurz davor aufzugeben, als sie endlich in den frühen Abendstunden die Stadtmauern von Tarsos erreichten. Halb erfroren und völlig erschöpft gelangten sie zum Museion, wo sie die Pferde in den Stall brachten und das Gepäck in ihre Zimmer warfen. Immer noch frierend wankten sie schließlich in den beheizten Seminarraum und ließen sich vom Koch eine heiße Fischsuppe bringen.
»Bei allen Göttern«, stöhnte Krates, während er langsam wieder auftaute. »Was für ein Ritt!«
»Stimmt«, nickte Agathon ernst, »das war ziemlich knapp. Mehr als eine
Stunde hätten wir das nicht mehr durchhalten können.«
Krates blickte seinen Freund dankbar an. »Du hast mir in den letzten Tagen sehr geholfen, Agathon. Ich hoffe, dass ich das eines Tages wieder gut machen kann.«
Agathon lachte müde. »Wenn du mir gestattest, mit deiner Schwester in Kontakt zu bleiben, gibst du mir mehr als genug. Bei Aphrodite, mich hat’s wirklich erwischt.«
Es war noch früh am Morgen, als Krates gegen die metallene Pforte des Apollonheiligtums klopfte und nach dem Schatzmeister fragte. Er überreichte ihm sein Geld und handelte mit ihm einen Guthabenzins von sieben Prozent aus. Während er sich auf dem Rückweg durch die zunehmend voller werdenden Straßen schob, musste er unwillkürlich an seinen Vater denken. Timokrates hatte ihn immer davor gewarnt, Zuversicht und Hoffnung miteinander zu verwechseln. Denn obwohl sich beide Begriffe auf etwas Zukünftiges, Unsicheres und Wunschbeladenes beziehen, spiegeln sie doch zwei grundverschiedene Geisteshaltungen wider. Hoffnung war demnach etwas Passives, was keinerlei eigene Aktivität voraussetzt und daher eines ehrbaren Mannes unwürdig sei. Zuversicht dagegen könne man nur empfinden, wenn man selbst alles Erforderliche getan habe.
In den kommenden Wochen stürzte sich Krates in sein Studium wie nie zuvor. Dionysios empfand für ihn eine innige, ja fast väterliche Freundschaft und sie setzten ihre wissenschaftlichen
Diskussionen oft bis in die späten Abendstunden fort. Das alexandrinische Prinzip der von Aristarchos gelehrten Analogie als logischer Ansatz, der von der Gleichheit zweier Formen ausgeht, war ihm mittlerweile klar geworden, wenn auch er in einigen Bereichen seine Zweifel hatte, ob sie wirklich der Weisheit letzter Schluss sei. Außerdem begriff Krates mehr und mehr, dass der eigentliche Hauptunterschied zwischen den Akademikern und Analogikern auf der einen und den Stoikern auf der anderen Seite in der Ablehnung, beziehungsweise der Bereitschaft lag, sich auf dem Weg zur Erkenntnis von Erfahrungen leiten zu lassen. Denn Erfahrungen, das wusste er aus seinem eigenen Leben, hatten oft die unbequeme Eigenschaft, sich nicht logisch erklären zu lassen. Die Akademiker lehnten sie daher als gültigen Sinneseindruck ab, während sich die Stoiker wenigstens mit den Bedingungen auseinandersetzten, unter denen sie als gültiger Sinneseindruck akzeptabel wäre.
Eines Abends, der Winter neigte sich schon langsam dem Ende und auch die Temperaturen wurden zunehmend frühlingshafter, unterhielt sich Krates mit Philopatros über seine Herkunft.
»Ach, Pergamon«, seufzte Philopatros sehnsüchtig. »Ich nehme an, du bist noch nie dagewesen.«
»Nein«, gab Krates zu, »aber vielleicht kannst du mir etwas von deiner Stadt erzählen. Ist sie größer als Tarsos?«
»Beim Zeus, ja!« rief Philopatros mit gespielter Empörung. »Viel größer sogar und auch wesentlich bedeutender, immerhin ist sie die Reichshauptstadt. Aber sag, was interessierst du dich für meine Heimat?«
Krates lächelte verlegen. »Dionysios hat sich ein paarmal über die Stadt geäußert und dabei aus seiner Geringschätzung keinen Hehl gemacht. Das hat mich ehrlich gesagt neugierig gemacht, und weil Kallisthenes immer betont, dass man sich schon beide Seiten anhören muss, dachte ich mir, frage ich einfach mal nach.«
»Ein ehrbarer Standpunkt. Weißt du, es kommt immer darauf an, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet. Wenn sich Dionysios über meine Vaterstadt abfällig äußert, so richtet sich sein Unmut in erster Linie gegen die Bibliothek. Außerdem kann er nicht nachvollziehen, wie sich unsere Könige und die Gesellschaft so sehr für die Kunst interessieren, die seiner Ansicht nach das Werk von Banausen sei, die ihre Arbeit nur mit den Händen und nicht mit dem Kopf erledigen.«
»Bist du denn in diesem Punkt anderer Meinung?«
»Natürlich«, ereiferte sich Philopatros. »Auch die Kunst ist doch nichts anderes als der manifestierte Ausdruck eines Gedankens. Nimm nur die Darstellung der Amazonenkämpfe oder die Taten des Theseus oder des Herakles, die du auf vielen Tempeln wiederfinden kannst. Für die meisten Betrachter, zu denen wir wohl auch Dionysios zählen müssen, handelt es sich dabei nur um einen Kampf zwischen Göttern und Sagengestalten. Aber man kann diese Bildprogramme ja auch ganz anders verstehen.«
»Und wie?« fragte Krates sichtlich interessiert.
»Nun ja, zum Beispiel als den Kampf der eigenen Tradition gegen das Unbekannte und Fremde; oder als Siegeszeichen einer expandierenden Macht, die nicht nur zu Hause, sondern auch in der Ferne die eigenen Ziele verfolgt und damit durchkommt, gewissermaßen mit göttlicher Hilfe.«
»Klingt sehr politisch.«
»Sicher, das ist es wohl auch. Aber so gesehen ist Kunst eben nicht einfach nur das Werk irgendwelcher namhafter Banausen, nein! Sie ist, wenn du so willst, manifestierte Geschichte, die übrigens in meinen Augen den gleichen Stellenwert hat wie die schriftlichen Erkenntnisse eines Pythagoras.«
»Und was hat das alles mit deiner Heimatstadt zu tun?«
»Du musst wissen, Krates, dass Pergamon noch gar nicht so alt ist. Die Stadt wurde vor weniger als zweihundert Jahren gegründet und hätte es niemals zu ihrem Ruhm und ihren Gebietsansprüchen bringen können, wenn sich unsere Könige dabei einzig auf die Kraft ihrer Armeen verlassen hätten.«
»Du willst doch wohl nicht behaupten«, lachte Krates, »dass sich eure Untertanen etwas anderem gebeugt hätten als eurer militärischen Stärke?«
»Natürlich nicht«, beschwichtigte Philopatros. »Eroberungen laufen nun einmal über Taktik und Gewalt. Aber für den Zeitpunkt nach der Eroberung gibt es eigentlich nur zwei mögliche Spielarten: Nämlich entweder die Herrschaft auf der Basis von Angst und Unterdrückung oder eine Regierung auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens. Nun ist eine Schreckensherrschaft kein sonderlich geeigneter Garant für innere
Stabilität, nicht wahr? Daher haben sich unsere Könige für das Vertrauen entschieden. Und welche Methode könnte da besser sein, das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den eroberten und benachbarten Griechenstädten zu fördern als die Wahrung eines gemeinsamen Kunstverständnisses, das gleichsam die inneren Werte wie Sicherheit, Freiheit und Wohlstand widerspiegelt wie auch einen unverkennbaren Nutzen darstellt?«
»Hmmm … Könntest du mir dafür vielleicht ein Beispiel nennen?«
»Nichts leichter als das! Schau mal auf das Gebälk der Säulenhalle dort drüben. Wie viele Triglyphen siehst du da zwischen den Säulen?«
»Eine einzige«, antworte Krates, der nicht verstand, worauf Philopatros hinauswollte.
»Genau. Über jedem Säulenjoch steht eine Triglyphe und dazwischen jeweils noch eine.«
»Ja, aber was willst du mir damit sagen? Ist das denn nicht überall so?«
»Nein, ist es nicht«, lächelte Philopatros verschmitzt. »Bei unseren Bauten, die in Pergamon stehen und die unsere Könige in allen anderen Städten ihres direkten oder befreundeten Territoriums erbauen lassen, befinden sich zwischen den Säulenjochen je zwei Triglyphen.«
»Zwei Triglyphen?« wiederholte Krates ungläubig. »Warum zwei?«
Philopatros lachte aus vollem Halse. »‘Warum zwei?’« äffte er ihn nach. »Nun, ich denke, diese Frage kannst du dir selbst beantworten, nicht wahr? Die Bauweise mit den zwei Triglyphen ist so grundsätzlich anders als man es kennt, dass es zwangsläufig etwas Neues darstellt, über das man sich definieren kann.«
»Sonderbarer Einfall.«
»Stimmt«, gab ihm Philopatros recht, »aber überaus wirksam. Das ist natürlich nur ein winziges Detail unseres Kulturverständnisses, doch in der Summe aller Einzelteile ergibt es einen Sinn, der eben nicht nur das Werk irgendwelcher Banausen ist, sondern einen tiefer schürfenden Gedanken wiedergibt. Genauso verhält es sich auch mit der Bibliothek und dem Museion unserer Könige, die sich an der kulturellen Größe Athens zu orientieren versuchen und damit auf eine weit verbreitete Sympathie stoßen.«
»Das klingt ganz logisch«, schloss Krates. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum sich Dionysios so vehement dagegen wehrt.«
»Dionysios betrachtet das Ganze wie gesagt aus einer anderen Perspektive. Er stammt aus Alexandria, wo das Museion und die Bibliothek bereits seit mehreren hundert Jahren existieren. Eine Kulturpolitik wie sie von unseren Königen betrieben wird, ist in Ägypten nicht weiter notwendig und mag daher auch unverständlich, wenn nicht gar überflüssig erscheinen. Und wenn man nicht bereit ist, über die Hintergründe nachzudenken, die unsere Einstellung zur Folge hat, mag man die Bibliothek von Pergamon vielleicht wirklich als eine unwillkommene Konkurrenz empfinden, anstatt als belebende Ergänzung.«
»Seid gegrüßt, ihr Denker!« unterbrach sie Agathon, der aus dem Haus trat und sie freudig empfing. »Jungs, mir raucht der Schädel vor lauter Platon. Habt ihr nicht Lust, mich auf einen Wein in die Stadt zu begleiten?«
Philopatros wechselte einen amüsierten Blick mit Krates und zeigte sich einverstanden. Scherzend wanderten sie durch die Gassen und setzten sich in eine der nahen Weinschenken.
»Platon?« erkundigte sich Philopatros, nachdem sie einen freien Tisch gefunden und ihren Wein bestellt hatten.
»Platon«, nickte Agathon resigniert. »Ich meine, seine Ideenlehre ist ja an und für sich ganz überzeugend; da gibt es diesen Topf, in dem alle Ideen drin sind und wenn man sich nur genügend konzentriert und die erforderlichen Fähigkeiten aufbringt, kann man auf den Topf zugreifen und jede beliebige Idee herausziehen. Aber irgendwie muss ich den Topf aus den Augen verloren haben. Jedenfalls geht da heute Abend gar nichts mehr.«
Philopatros lachte mitfühlend. »Na, wie heißt sie denn?«
»Wer?«
»Na, der Grund für deine Vernebelung.«
»Orthygia«, säuselte Krates mit verschmitztem Lächeln, »mein Schwesterherz.«
»Das ist nicht wahr, oder?« erkundigte sich Philopatros lachend.
»Doch, verdammt!« bestätigte Agathon und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Sie ist mir so allgegenwärtig, dass ich nicht mehr klar denken kann.«
Philopatros warf Krates einen fragenden Blick zu.
»Sie haben sich bei unserem Besuch in Mallos kennengelernt.«
»Offensichtlich ist es dabei nicht geblieben. Ist es denn wirklich so schlimm?«
»Schlimmer«, lachte Krates. »Du hättest sie sehen sollen. Das war Liebe auf den ersten Blick. Und ich hatte immer gedacht, so etwas gibt es gar nicht.«
Agathon griff in seinen Mantel und legte das Portrait auf den Tisch, das er in Mallos von Orthygia gezeichnet hatte.
Philopatros pfiff durch die Zähne. »Aphrodite steh mir bei«, sagte er leise und warf Krates einen anerkennenden Blick zu. »Ist sie das?«
Krates setzte seinen Weinbecher ab und nickte mit dem Kopf. »Agathon hat sie gezeichnet, als wir gemeinsam in Mallos waren und ich bin immer noch erstaunt, wie gut er sie getroffen hat.«
Agathon lächelte. »Möchtest du das Bild haben?«
»Darf ich?« fragte Krates freudig.
»Na klar, ich schenke es dir.«
»Sie ist wirklich wunderschön«, sagte Philopatros anerkennend. »Wann wirst du sie wiedersehen?«
»Erst im Sommer. Wenn ich es bis dahin noch aushalte.«
Krates räusperte sich. »Bist du nicht im Sommer mit deiner Ausbildung fertig?«
»Ja, wenn alles glatt läuft, werde ich euch bald verlassen.«
»Und dann? Hast du schon Pläne für deine Zukunft?«
»Natürlich habe ich die«, lachte Philopatros. »Ich werde zurück nach Pergamon gehen und meinen Vater Stratios bei seiner Arbeit unterstützen. Er ist Arzt und leitet unser Asklepieion.«
»Aber du bist doch kein Arzt.«
»Woher willst du das denn wissen?«
Da ihn Krates ungläubig musterte, erklärte er ihm, dass er zunächst bei seinem Vater in Pergamon gelernt habe, bevor er nach Tarsos kam. »Die Ärzte von Pergamon«, fuhr er fort, »haben lange Zeit nur über mündliche Tradition gewirkt. Als schließlich die Idee aufkam, ihre doch eher zufälligen Notizen zu einem wissenschaftlichen Apparat zusammenzufassen, wurde uns schnell klar, dass wir zu wenig Ahnung von den Gesetzen überregionaler Wissenschaften hatten, um unser Anliegen erfolgsversprechend in die Tat umzusetzen. Leider waren uns die Gelehrten unserer königlichen Bibliothek keine große Hilfe, daher beschloss der Ärzterat, mich studieren zu lassen, um mir dann später, wenn ich wieder nach Pergamon zurückkehren würde, die zentrale Wissenschaftsverwaltung zu übertragen. Eigentlich wollten sie mich nach Athen schicken, doch damals war das Ägäische Meer ziemlich unsicher, so dass eine Überfahrt zu riskant war. Die nächstgelegene Alternative wären die Schulen von Rhodos und Karien gewesen, aber das ging aus politischen Gründen nicht. Und so bin ich dann eben hier in Tarsos gelandet.«
»Bei allen Göttern!« entfuhr es Krates, der Philopatros nun um so mehr bewunderte.
»Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder, wenn du nach Pergamon kommst.«
»Wann sollte das sein?«
Philopatros schmunzelte. »Vermutlich eher als du denkst.«
Sie beendeten ihren gemeinsamen Abend in der Taverne und kehrten zum Museion zurück. Krates betrachtete noch einmal das Bild von Orthygia, das ihm Agathon geschenkt hatte und stellte es in seinen Schrank neben die Tonscherbe von Myrons Vase. Schade nur, dachte er sich, dass Agathon seinen Vater und Myron nicht gekannt hatte. Sonst hätte er ihm auch von Timokrates und seinem Lehrer ein Bild malen können. Aber was war schon ein Bild gegen die Erinnerung?