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Kapitel 25

Es war ein milder Nachmittag, als Krates mit Scipio, Laelius und Polybios im Garten der kleinen Taverne am Palatin saß und sie gemeinsam eine Amphore Wein leerten. Von Süden wehte ein warmer Wind über den Hügel und die über dem Tiber stehende Sonne strahlte aus einem wolkenlosen Himmel.
»Auf den Logos!« rief Polybios und hob seine Weinschale.
»Und auf Cornelius«, erwiderte Krates. »Hätte er mich damals nicht gebeten, meine Vorträge fortzusetzen, würde ich vermutlich noch immer die verwahrlosten Bibliotheken eurer Landsleute sortieren.«
»Ihrer Landsleute«, korrigierte ihn Polybios grinsend und deutete dabei auf Laelius und Scipio.
»Rom ist wie verzaubert«, bekräftigte Scipio. »Du hast es geschafft, einen wahren Kulturtrend auszulösen und die Buchhändler für griechische Literatur haben Hochkonjunktur. Was ich dir aber noch viel höher anrechne, ist die Tatsache, dass du den alten Cato auf den Plan rufen konntest …« Er schüttelte sich vor Lachen und schlug sich begeistert auf die Knie. »Beim Jupiter, Krates! Das macht dir so schnell keiner nach.«
»Cato? War das der ältere Herr, der sich bei einem meiner letzten Vorträge so lautstark über die griechische Geisteswelt aufgeregt und dabei so viele eigene Kenntnisse der griechischen Literatur und Geistesgeschichte hat durchblicken lassen, dass man sich ernsthaft fragen musste, wo eigentlich sein Problem liegt?«
»Cato ist nicht ganz normal«, erklärte Polybios. »Eigentlich ist er hochintelligent, aber er eckt überall an und bricht einen Streit nach dem anderen vom Zaun. Wenn du mich fragst, ist die Beschäftigung mit ihm reine Zeitverschwendung.«
»Was mich dagegen freut«, wandte sich Krates an Scipio, »ist die positive Entwicklung deines Adoptivvaters.«
Scipio nickte glücklich vor sich hin. »… für die ich dir übrigens sehr dankbar bin. Natürlich war es in erster Linie sein Verdienst, wenn er heute nicht mehr als der Trottel der Gesellschaft dasteht, sondern als fachkundiger Vertreter des intellektuellen Roms. Aber ohne deine Hilfe hätte er das nie geschafft.«
»Wie hältst du es eigentlich in einem Königreich aus?«
Krates schaute Laelius verständnislos an. »Was meinst du?«
»Naja, ihr Griechen habt doch die Demokratie erfunden, die reinste und beste Form gerechter Politik. Wie kannst du da unter einem König leben?«
Krates lachte und schüttelte amüsiert den Kopf. »Mein lieber Freund! Eumenes ist alles andere als ein Tyrann, falls du das denken solltest. Er ist vielmehr das, was ihr einen ›Princeps‹ nennt, auch wenn diese Bezeichnung in eurer Aristokratie sicher ohne politische Relevanz bliebe.«
»Wir haben hier keine Aristokratie«, erwiderte Laelius kühl, »sondern eine Republik, deren Vertreter vom Volk gewählt werden.«
»Aha. Und wer bitte ist das Volk?«
»Na … alle eben.«
Krates hob amüsiert die Augenbrauen. »Wirklich alle?«
»Also schön«, gab Laelius zu, »fast alle.«
Krates ließ nicht locker. »Meinst du nicht, dass selbst die Bezeichnung ›fast alle‹ noch reichlich übertrieben ist?«
»Was weiß ich?« rief Laelius ungehalten. »Jedenfalls alle, auf die es ankommt.«
Krates und Polybios fingen zeitgleich an zu lachen.
»Und wer«, mischte sich Polybios ein, »beurteilt, auf welche Bevölkerungsgruppen es in Rom ankommt und auf wessen Meinung man lieber verzichten sollte?«
Laelius ahnte, in welcher argumentativen Schlinge er sich verfangen hatte und warf Scipio einen verzweifelten Blick zu.
»Sie haben leider Recht«, schmunzelte dieser verlegen. »Unsere Republik ist von Platons Idealstaat noch immer so weit entfernt, dass wir uns hüten sollten vor anderen allzu moralisch zu werden.«
»Weißt du schon, wann du abreist?« fragte Polybios immer noch lachend, um schnellstmöglich das Thema zu wechseln.
Krates setzte gerade zu einer Antwort an, als es ihm wie ein Stich ins Herz fuhr. Er wollte Rom nicht ohne Livia verlassen, doch dafür bedurfte es der Zustimmung ihres Vaters und der hatte sich bisher noch nicht dazu geäußert. So hing seine Abreise wie ein Fluch über ihnen und mit jedem Tag, dessen Temperaturen frühlingshafter wurden, reagierten sie gereizter und schienen sich mehr und mehr voneinander zu distanzieren.
»Hallo?« fragte Polybios schmunzelnd, »bist du noch da?«
»Lass ihn«, bat Scipio, der um Krates’ Schmerz wusste.
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Krates und schluckte. »Ich wollte im nächsten oder übernächsten Monat aufbrechen. So weit ich weiß, sind die ersten Schiffe auch schon wieder unterwegs.«
Am Abend schaute er bei Aurelius vorbei, um mit Livia zu reden, doch sie war anscheinend nicht da und Aurelius zeigte sich so mürrisch und abweisend, dass er niedergeschlagen wieder abzog. Auch am nächsten und übernächsten Tag hatte er keinen Erfolg und so verging fast eine ganze Woche, ohne dass er mit Livia oder Aurelius hätte sprechen können.
Krates war verzweifelt und fragte sich immer öfter, ob er nicht doch in Rom bleiben und seine Vorträge fortsetzen sollte. Er könnte Livia heiraten, sich ein schönes Haus kaufen und in den besten Gesellschaftskreisen verkehren. Aber er war hier nicht zuhause und wusste, dass er vermutlich bis zu seinem Tode unglücklich sein würde. Wenn es überhaupt einen Weg gab, dann nur den nach Pergamon, mit oder ohne Livia.
»Krates!« keuchte Scipio, der in sein Zimmer gestürmt war. »Komm schnell.«
»Was ist denn los?«
»Livia«, stotterte er hilflos. »Ich glaube, sie hat sich vergiftet.«
Krates sprang panisch auf und rannte mit Scipio über die Straße zum Nachbarhaus. Als sie Livias Schlafzimmer erreichten, sahen sie sie leblos auf ihrem Bett liegen. Der Arzt, der vor ihr stand und sie bereits geschröpft hatte, schüttelte müde sein altes Haupt, packte seine Sachen zusammen und schaute Aurelius traurig in die Augen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Das Gift ist schon zu tief in ihr drin. Ich hoffe für euch, dass sie schnell stirbt.«
Krates eilte zu Livia, umklammerte ihre Hände und redete wie wild auf sie ein. Als sich Aurelius wieder einigermaßen gefangen hatte, packte er Krates an den Schultern und rüttelte ihn verzweifelt durch.
»Hol sie zurück, Krates! Ich flehe dich an, hol sie zurück!«
Krates nickte stumm und tastete zitternd über ihren Körper. Er spürte das Ziehen in ihrem Herzmuskel, aber noch viel stärker schienen die Schmerzen in ihrem Bauch. Ihrem stoßweisen Atem nach zu urteilen, war Livia noch am Leben, aber sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Er ließ sich einen großen Becher mit Salzwasser bringen und kippte ihr die Flüssigkeit in den Mund. Es dauerte nicht lange, bis sich Livia aufbäumte und wild mit den Armen um sich schlug. Sie nahmen ihren Körper und hängten ihn über die Bettkante, bis sie sich erbrach.
Für einen kurzen Moment schlug sie die Augen auf, um sie mit einem hässlichen Schielen wieder zu schließen. Krates stützte ihren Kopf und flößte ihr abermals Wasser ein, bis sie sich ein zweites Mal übergab. Er strich ihr liebevoll das verklebte Haar aus der Stirn und begann mit seiner Pneumabehandlung. Vierhundertmal reinigte er ihren Magen und ihr Herz. Dann betete er inbrünstig zu Zeus und bat ihn um das göttliche Licht, um es Livia in den Bauch zu schicken.
»Sie wird es schaffen«, sagte er schließlich. »Ihr Körper ist stark und ihr Geist will leben. Aber sie braucht jetzt viel Ruhe und Liebe.«
Aurelius bat ihn, die Nacht über da zu bleiben und so legte sich Krates zu ihr ins Bett. Während der Nacht horchte er immer wieder auf ihren Atem, fühlte besorgt nach ihrem Herzschlag und fand keine Ruhe, obwohl er doch todmüde war. Erst bei Anbruch der Morgendämmerung wurde Livia das erste Mal wach.
»Krates«, wisperte sie flehend, »Krates, hilf mir doch.«
Er war auf einmal hellwach und streichelte ihr sanft über die Wangen. Tränen der Erleichterung rannen ihm übers Gesicht und er küsste sie zärtlich. »Ich bin hier, Livia. Ich bin bei dir.«
Sie schlug die Augen auf und erblickte den Mann ihres Herzens.
»Ich habe Hunger«, war alles, was sie hervorbrachte und Krates wäre vor Freude am liebsten an die Decke gesprungen. Denn wer Hunger hatte, wollte leben und wer leben wollte, wurde auch wieder gesund. Er rief nach einem Sklaven und ließ sich einen Obstbrei bringen sowie ein weiches Stück Brot und einen Krug Wasser. Nachdem er Livia gefüttert und sie wieder gut zugedeckt hatte, damit sie das restliche Gift aus ihrem Körper ausschwitzen konnte,
zog er sich den Schemel vor ihr Bett und betrachtete sie lange und nachdenklich.
»Was schaust du mich so an?« fragte sie schwach.
»Ich frage mich, warum du das getan hast.«
»Ich wollte nicht ohne dich leben«, antwortete sie weinend.
»Aber du hättest mich doch nach Pergamon begleiten können.«
»Nein. Mein Vater hat es mir verboten.«
»Und deshalb hast du dieses Gift geschluckt?«
Sie nickte beschämt mit dem Kopf.
Krates nahm ihre Hand und küsste sie. Er merkte, wie er zornig wurde, aber dies war natürlich nicht der richtige Augenblick, um ihr den Fehler ihrer Entscheidung klar zu machen.
»Tu das nie wieder«, sagte er nur und musste sich zusammennehmen, um es nicht zu wütend klingen zu lassen. »Hast du mich verstanden, Livia? Nie wieder.«
Sie nickte und blickte plötzlich ängstlich zur Tür. Aurelius stand im Türrahmen und sah furchtbar mitgenommen aus. »Wie schön, mein Herz, dass du wieder sprechen kannst. Darf ich dir deinen Retter kurz entführen?«
Livias Augen füllten sich mit Tränen. Krates drückte ihr noch einmal die Hand und folgte Aurelius ins Atrium. Es war ein wunderbares Märzwetter, mild und sonnig und von den Dächern hörte er endlich wieder die ersten Vögel zwitschern. Der Frühling war gekommen.
Aurelius führte ihn in einen der hinteren Räume und ließ ihn Platz nehmen. Er brauchte einige Zeit, bis er sich gesammelt und die richtigen Worte gefunden hatte. »Meine Tochter hat sich also endgültig für dich entschieden. Beim Apollo, Krates, sie wäre lieber gestorben, als mit mir hier in Rom zu bleiben. Und sie wird es garantiert wieder tun. Was bleibt mir also anderes übrig als sie dir mitzugeben?«
Krates verschlug es die Sprache.
»Es fällt mir nicht leicht«, gab Aurelius zu, »und ich tue das auch nur unter einer einzigen Bedingung: Ich möchte, dass du Livia heiratest. Hier in Rom und noch bevor ihr abreist.«
Krates konnte es noch immer nicht fassen. Livia würde ihn nach Pergamon begleiten und das sogar mit dem Segen ihres Vaters.
»In vier Wochen«, fuhr Aurelius fort, »finden in Rom die Feierlichkeiten zu Ehren der Magna Mater statt. Bis dahin müsste sie wieder auf den Beinen sein. Wir werden euch nach römischem Brauch vermählen und dann kannst du mit deiner Frau aufbrechen, wohin immer es euch zieht.«
Aurelius brach ab und er vergrub schluchzend das Gesicht in den Händen. Krates fühlte sich vollkommen hilflos und legte ihm vorsichtig die Hand auf den Arm. Der alte Mann schüttelte sie ab, ergriff sie dann aber wieder und hielt sie verzweifelt fest. Lange Zeit blickten sie einander an und durchlebten noch einmal alle Höhen und Tiefen ihrer bisherigen Bekanntschaft. Allmählich erlangte Aurelius seine Fassung zurück und nickte ernst vor sich hin.
»Geh zu deinem Mädchen, Krates. Sie braucht dich jetzt mehr denn je.«
Krates kehrte zu Livia zurück, löschte alle bis auf eine der Lampen und legte sich zu ihr ins Bett.
»Wie fühlst du dich?« fragte er, als sie aufgewacht war.
»Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.«
»Das geschieht dir Recht. Und sonst?«
»Ansonsten bin ich einfach nur müde. Über was hast du mit meinem Vater gesprochen?«
Krates lachte erleichtert. »Aurelius hat mir gestattet, dich mit nach Pergamon zu nehmen. Allerdings nur unter der Auflage, dass du mich vorher noch zu seinem Schwiegersohn machst.«
»Bei Juno und Vesta!« jauchzte Livia und warf sich unbeherrscht die Decken vom Leib. Sie umarmte ihn so fest, wie es ihre geschwächten Lebensgeister zuließen. »Ja, Krates! Bitte nimm mich zur Frau!«


Livia hatte verdammtes Glück gehabt. Hätten Scipio und Krates nicht so schnell zu ihr gefunden, wäre sie langsam und qualvoll verendet. Da sie jedoch die falsche Menge genommen und alles Gift aus ihrem Körper erbrochen oder hinaus geschwitzt hatte, wurde sie schnell wieder gesund und brauchte auch mit keinen bleibenden Gesundheitsschäden zu rechnen.
Krates nutzte die Zeit bis zu den Festspielen der Magna Mater, um noch zwei weitere Vorträge über die Epen Homers zu halten und legte die Honorare vorsorglich in seine Reisekasse. Wenn ihn Livia nun doch nach Pergamon begleitete, würden die Kosten um einiges höher ausfallen. Als ihn Cornelius eines Abends fragte, wie er eigentlich die weite Strecke mit seiner Frau und ohne Bewaffnung bewerkstelligen wollte, hörte Krates zum ersten Mal von der Möglichkeit des Seewegs.
»Wie soll das denn gehen?« fragte er interessiert.
»Ganz einfach«, erwiderte ihm Cornelius schulterzuckend. »Du fährst von Ostia über Sicilia und Hellas nach Asien. Es ist natürlich ein bisschen riskant wegen der Unwetter. Aber wenn man im Frühjahr fährt, wenn der Wind fast immer aus westlichen Richtungen weht, ist das nahezu ungefährlich. Viel entscheidender ist die Kostenfrage und das Vertrauen in die Schiffsmannschaft.
»Vielleicht könnte ja Publicius da etwas organisieren?«
»Aber natürlich!« rief Cornelius begeistert. »Wir sollten ihn auf jeden Fall fragen.«
Publicius Clodius besaß tatsächlich zwei Schiffe, die die Route OstiaOdessa befuhren und Rom aus den fernen Kornkammern des Schwarzen Meeres mit Getreide versorgten.
»Ist der Mannschaft auch zu trauen?« fragte Cornelius.
»Wenn sie das Schiff des Telamon besteigen, kann ich für ihre Sicherheit bürgen. Er ist der beste meiner Kapitäne und selbst ein liebender Ehemann und Vater. Interessiert euch das wirklich?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Krates. »Wenn Livia seefest ist, wäre mir diese Art des Reisens sogar sehr viel lieber als der endlose Ritt durch die Berge.«


Aurelius hatte den Hochzeitstermin auf den dritten Tag der Ludi Megalenses festgesetzt. Es war ein warmer Frühlingstag mit azurblauem Himmel und duftenden Blüten. Als Krates seine Braut sah, bewunderte er stolz ihre Schönheit. Das leuchtende Weiß ihres Kleides stand in hübschem Kontrast zu ihrem dunklen Haar. Aber auch Krates hatte sich feierlich angezogen und spürte die anerkennenden Blicke seines zukünftigen Schwiegervaters.
Nach dem Hochzeitszeremoniell applaudierten die Trauzeugen und riefen ihnen den Gruß der frisch Vermählten zu. Aurelius hatte über fünfzig Gäste eingeladen, von denen die ersten bereits am späten Vormittag eintrafen. Krates machte sich nach und nach mit den übrigen Mitgliedern von Aurelius’ Familie bekannt und musste unzähligen Leuten die Hände schütteln, die ihn von seinen Vorträgen kannten oder von ihm gehört hatten.
Cornelius trat auf sie zu und hatte Silanos an seiner Seite. Er beglückwünschte sie und nahm sie herzlich in die Arme. Nachdem sich auch Silanos lächelnd vor ihnen verbeugt hatte, nahm er sie beiseite. »Ich möchte euch ein Hochzeitsgeschenk machen, das mir weitaus sinnvoller erscheint als ein teures Tafelgeschirr oder etwas anderes für euren Hausstand in Pergamon. Nämlich meinen Sklaven Silanos, der mir über sieben Jahre treu gedient hat und euch beide gut leiden kann.«
»Es wird mir eine Ehre sein euch zu dienen«, sagte Silanos mit einer weiteren Verbeugung und Krates hatte das deutliche Gefühl, dass er das in gewisser Weise sogar ernst meinte. Livia strahlte und Krates bedankte sich bei Cornelius für das großzügige Geschenk. Dann hieß er Silanos auf römisch willkommen und fügte leise auf Pisidisch hinzu, dass er bloß nicht auf die Idee kommen möge, ihn mit ›Herr‹ anzureden.
Gegen Nachmittag waren alle Hochzeitsgäste erschienen und das Haus mit zweiundsiebzig Personen voll besetzt. Nach Aurelius’ Begrüßungsrede folgte der Hauptgang, der aus einem aufwendigen Gericht gebratener Vögel und geräucherter Fische bestand, die in nicht enden wollender Fülle zu den Tischen getragen wurden.
»Auf die Frischvermählten!« rief einer der einarmigen Kriegsveteranen zackig und hob seine Trinkschale zum Toast.
»Das wird wohl nicht der letzte Trinkspruch bleiben«, bemerkte Livia, nachdem sich die Gäste wieder gesetzt hatten.
»Wir müssen ja nicht jedes Mal mittrinken«, erwiderte Krates.
»Dann lass es uns bitte so halten. Ich möchte doch heute Abend noch etwas von dir haben.«
Krates beugte sich über den Tisch und gab ihr einen zärtlichen Kuss, der die Hochzeitsgesellschaft abermals zum Beben brachte und lauten Beifall auslöste.
Zu Krates’ freudigem Erstaunen hielten nicht nur Cornelius und Scipio eine Rede, sondern auch der junge Terentius, der sich bei Krates für seine Unterstützung bedankte und sie alle zur Uraufführung seiner ersten Komödie einlud, die morgen zum Abschluss der Feiertage im Palatintheater stattfinden sollte. Mit hochrotem Kopf überreichte er Krates einen dicken Papyrus, auf dem sich die fünf Akte seiner ›Andria‹ befanden.
Der Abend wurde spät und sie verabschiedeten sich von jedem der Aufbrechenden persönlich, zumal diese Feier auch gleichzeitig ihr Abschiedsessen war, denn am übernächsten Tag wollten sie nach Ostia aufbrechen, um mit Telamon und seiner Mannschaft nach Asien zu segeln. Während sich Aurelius und seine Veteranen ins Atrium gesellt hatten und dort sturzbetrunken dem Mond zuprosteten, verabschiedeten sich Krates und Livia von den restlichen Gästen und schlenderten Arm in Arm durch die sternklare Nacht.
Silanos hatte in Krates’ Zimmer eine Öllampe angezündet und den kleinen Holzkohleofen entfacht, der in der Zwischenzeit eine wohlige Wärme verbreitete. Das Bett war frisch bezogen und der Fußboden mit duftenden Blütenblättern übersät. Krates und Livia konnten es kaum erwarten. Hastig streiften sie sich die Kleider vom Leib und begannen einander begehrend zu liebkosen. Für Krates war es nicht das erste Mal, wohl aber mit einer Frau, die er innig liebte. Livia dagegen war deutlich unsicherer, aber sie zeigte keinerlei Angst und ließ sich bereitwillig führen. Wieder und wieder liebten sie sich und Livia fand zunehmend Gefallen an ihrem Spiel, bis das Öl der Lampe ebenso verbraucht war wie ihre Kräfte und das Zimmer in tiefer Dunkelheit versank.
Am nächsten Morgen erwachten sie durch die ersten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Deckenfenster in Krates’ Bett bahnten und begehrten einander ein weiteres Mal. Erschöpft lachten sie sich an und riefen nach Silanos, der das Frühstück schon fertig hatte und es ihnen freudestrahlend ans Bett brachte.
Nach dem Frühstück wuschen sie sich und kleideten sich an, um für den morgigen Aufbruch ihre Sachen zu packen. Am späten Vormittag gingen sie gemeinsam mit Cornelius und Scipio zum Palatintheater, vor dem sie von Terentius herzlich empfangen wurden.
Die Zuschauer strömten in Scharen herbei und als das rechteckige Gebäude nahezu voll war, trat Terentius auf die Bühne und hielt eine kurze Ansprache, in der er die Zuschauer auf seine Komödie vorbereitete und mit dem gleichmäßigen Versmaß seiner Worte den rhythmischen Singsang des Theaterstücks einläutete.
Die Komödie, die von Turpio und seiner professionellen Schauspielgruppe aufgeführt wurde, war ein voller Erfolg. Das Publikum ging in allen Phasen der Geschichte voll auf und der glückliche Ausgang rührte manchen zu Tränen. Der Applaus nach dem Schlussakt wollte nicht enden, die Schauspieler mussten sich wieder und wieder auf der Bühne verbeugen und Terentius wurde als der neue Star der römischen Komödie gefeiert.
Der Abschiedsabend von Aurelius fand in der gleichen Besetzung statt wie an jenem Nachmittag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Es war eine bescheidene, aber auch schweigsame Mahlzeit, die der alte Mann mit Livia, Krates und Scipio im Speiseraum seines Hauses einnahm. Nach dem Essen setzten sie sich an den offenen Kamin, während ihnen Aurelius von der Belagerung Karthagos erzählte. Er war damals mit seiner Kohorte und den Männern des Quintus Festus in einen Hinterhalt geraten. Quintus war auf dem Schlachtfeld schwer verwundet worden und lag schon im Sterben, als er Aurelius den Befehl zuschrie ihn dort sterben zu lassen und sich lieber dem Optio Brutus Flaminius anzuschließen, der ihm weit mehr beibringen könne als es Quintus je konnte.
»Und warum hast du uns das erzählt?« fragte Livia, die seine Kriegsgeschichten schon nicht mehr hören konnte.
»Nun, aus zwei Gründen«, erwiderte Aurelius lächelnd und nahm noch einen tiefen Schluck aus seiner Weinschale. »Zum einen, weil ich jenen Brutus gestern zu eurer Hochzeit eingeladen hatte. Er verlor in Kynoskephalai seinen linken Arm. Ein sinnloses Opfer, aber so ist der Krieg. Vielleicht erinnert ihr euch sogar an ihn. Er war einer der ersten Gäste, die auf euch getrunken haben.«
Krates erinnerte sich, ahnte aber auch schon, dass ihnen Aurelius diese Geschichte nicht wegen seiner Bekanntschaft mit Brutus erzählt hatte.
»Der zweite und viel wesentlichere Grund ist eine Einsicht, die mir leider erst gestern Abend gekommen ist, nachdem ich mit Brutus die halbe Nacht durchgezecht hatte. Brutus nämlich hat mir erklärt, was mein Zenturio damals meinte, als er mich an seiner Seite fortschickte: Dass man kein Recht dazu hat, die Zukunft eines jungen Menschen aus egoistischen Gründen einzuengen.«
Aurelius stockte und versuchte, dem forschenden Blick seiner Tochter Stand zu halten. »All die Jahre über habe ich dich betrachtet und doch immer nur mich selbst gesehen. Meine Tochter, meine Schwiegersöhne, meine Ehre. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ich konnte es nicht. Denn was sollte deine heutige Situation von jener unterscheiden, in der ich mich damals vor Karthago befand? Du bist genau so jung und hast einen Mann an deiner Seite, der es weit gebracht hat und noch viel weiter bringt und der dich vor allem viel mehr wird lehren können als ich es je konnte. Warum also sollte ich dich, die du dein ganzes Leben noch vor dir hast, bei mir halten, wenn nicht aus rein egoistischen Gründen?«
Aurelius machte eine kurze Pause, um sich die Nase zu putzen. »Ich kann das Geschehene leider nicht ungeschehen machen«, fuhr er zögerlich fort. »Aber ich kann dir doch wenigstens sagen, dass es mir leid tut.«
Livia stand langsam auf, drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn und umarmte ihn lange und innig. Krates und Scipio wechselten einen verlegenen Blick und konzentrierten sich wieder auf die Flammen des Feuers.
Nach dieser Versöhnung gab es nicht mehr viel zu sagen und Aurelius erhob sich langsam, um Krates und Livia fest in seine Arme zu schließen. »Als Soldat habe ich immer nach vorne geschaut und das tue ich auch jetzt. Deshalb bitte ich euch: Erinnert euch immer an unsere gemeinsamen Abende. Vielleicht fällt euch später einmal etwas ein, was wir hier besprochen haben und was euch auf eurem zukünftigen Weg helfen kann. Als Vater dagegen habe ich immer nach hinten geschaut und das tue ich seit gestern Abend nicht mehr. Deshalb wünsche ich euch eine glückliche und kinderreiche Zukunft.«
Er küsste ihnen zum Abschied auf die Stirn und geleitete sie zur Tür. Gemeinsam mit Scipio verließen sie sein Haus und wünschten sich eine gute Nacht.


Am folgenden Morgen wurden Krates und Livia von Silanos geweckt, der ihnen das Frühstück brachte und ihnen mitteilte, dass der Wagen, der sie und ihr Gepäck zum Tiberhafen bringen würde, schon bereitstand. Eilig und ein wenig verschlafen verspeisten sie ihr Frühstück und trugen mit Silanos das Gepäck zum Wagen. Dann verabschiedeten sie sich von Cornelius und fuhren mit Silanos und Scipio zum Haus des Publicius im westlichen Velabrum.
Der Kaufmann begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und führte sie zum Tiberhafen. Sie verluden ihr Gepäck auf den Lastenkahn, mit dem sie anschließend flussabwärts fahren würden und nahmen Abschied. Scipio schien dieser Moment sehr nahe zu gehen, aber auch Krates und Livia hatten einige Mühe ihre Beherrschung nicht zu verlieren und so lagen sie sich schließlich heulend in den Armen.
Nach knapp zehn Stunden Flussfahrt, die sie mit einer üppigen Mahlzeit, einem anschließenden Mittagsschlaf und einer anregenden Unterhaltung hinter sich gebracht hatten, erreichten sie endlich die Tibermündung und das an ihr liegende Ostia, den Hafen von Rom.
Telamon begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln und bedankte sich bei Krates und Livia noch einmal für die wunderschöne Hochzeit. Dann ließ er ihr Gepäck umladen und wies ihnen eine kleine Kammer im Vorschiff zu. Silanos musste mit den übrigen Matrosen an Deck schlafen, aber das war ihm auch viel lieber.
Der Frachtensegler des Telamon war um einiges größer als all die Schiffe, auf denen Krates bisher gesegelt war und auch die Mannschaft bestand nicht nur aus einer Handvoll Matrosen, sondern aus fünfundzwanzig starken Männern, die ihr Handwerk verstanden. Da sie am kommenden Tag früh aufbrechen wollten, beschränkten sie sich auf eine
kleine Abendmahlzeit und begaben sich bald in die ihnen zugeteilte Kabine. Livia richtete die kleine Kammer so weit ein, wie es die spartanischen Verhältnisse erlaubten. Nach einer guten Stunde erhellte die Öllampe einen Raum, der so wohnlich aussah, dass sich Krates auf die nächsten Wochen regelrecht freute.
Als sie am nächsten Morgen erwachten, musste das Schiff den Hafen bereits verlassen haben, denn sie spürten deutlich die leichten Erschütterungen der Wellen, die unter dem Schiffsrumpf hindurch rollten, dabei leise gurgelten und einer neuen Erschütterung wichen. Livia überhäufte ihren Mann mit zärtlichen Küssen, bis er sie zu sich hin zog und mit dem Rhythmus der Wellen leidenschaftlich liebte.
Als sie schließlich doch noch an Deck gingen und sich von Silanos einen ironischen Guten Morgen wünschen ließen, ging es schon auf den Mittag zu. Die Küste von Latium ließ sich allenfalls noch erahnen und vor ihnen befand sich nichts als die Weite des Tyrrhenischen Meeres. Der stete Nordwestwind ließ das Boot gute Fahrt machen und trieb sie unaufhaltsam nach Süden.


Am Abend ihres fünften Seetages erreichten sie die Küste von Sizilien. Telamon ließ sein Schiff in den Hafen von Tauromenium manövrieren und an der großen Mole festmachen. Krates und Livia machten einen ausgedehnten Spaziergang in die Stadt und waren beeindruckt. Hoch über dem Strand in die wuchtigen Küstenfelsen gebaut, trotzte sie Wind und Wetter und erlaubte einen weiten Blick übers Meer und das sizilische Hinterland.
»Was ist das eigentlich für ein rauchender Vulkan?« fragte Livia, als sie im griechischen Theater standen und die großartige Landschaft jenseits des Theaterfelsens bewunderten.
»Telamon meinte, es sei der Aitne. Aber er ist offenbar schon lange nicht mehr ausgebrochen.«
Am nächsten Tag zogen dichte Wolken auf und der Wind drehte auf OstSüdOst. Telamon schaute in den Himmel und verzog das Gesicht. Da sein Schiff nicht sonderlich gut kreuzen konnte, mussten sie ihre Weiterreise so lange hinauszögern, bis der Wind wieder auf West bis Nordwest zurückdrehte. Doch die Tage verstrichen, ohne dass sich etwas tat und die Mannschaft wurde immer gereizter. Selbst Livia, die die ersten Hafentage sehr genossen hatte, war des langen Wartens überdrüssig und wurde wortkarg und streitlustig.
Nach zwei nervenaufreibenden Wochen drehte der Wind urplötzlich auf West. Blitzartig wurde das Schiff klargemacht und keine zwei Stunden später hatten sie abgelegt. Der Wind briste kräftig auf und trieb sie mit aller Kraft aufs offene Meer. Krates nutzte die Zeit, um Livia von seiner Heimat zu berichten und sie langsam auf das vorzubereiten, was sie in Pergamon erwartete.
Die Stunden auf See waren lang und eintönig, denn tagelang sahen sie nichts als Wasser. Krates und Livia beschränkten ihre Aktivitäten auf essen und Schlafen, ein paar Unterhaltungen und ihre Liebe füreinander, die sie in ihrer Kabine immer wieder ungestört und ungehemmt ausleben konnten. Nach sechs Tagen auf offener See erblickten sie endlich die zerklüftete Felsenküste von Kythera. Sie umschifften die Insel und legten sich in den geschützten Hafen von Kephale.
Die Insel selbst war ebenso groß wie unspektakulär. Es gab ein paar mächtige Berge mit viel Wald, aber außer dem Hafen keine weiteren Städte oder Siedlungen, die einer Besichtigung lohnten. So verbrachten sie die Tage bis zu ihrer Weiterfahrt am Strand, genossen das Badeleben und stritten sich über ihre unterschiedlichen Ansichten zur Kindeserziehung.
Als Telamon nach drei Tagen die Proviantkammern seines Schiffes wieder aufgefüllt und die Ladung aus Tauromenium gelöscht hatte, mahnte er zum Aufbruch, da sie durch den Wetterumschwung in Sizilien schon Zeit genug verloren hatten. Und von nun an wurde die Seereise auch wieder spannender, denn zu nahezu jeder Tageszeit rauschten an ihnen die Gestade irgendeiner ägäischen Insel vorüber. Silanos lebte förmlich auf, denn er kam seiner ursprünglichen Heimat näher und näher. Krates sah ihm seine Freude an und fasste den Entschluss ihn noch während der Seereise freizusprechen.
»Du weißt, mein lieber Philoxenos, dass wir Griechen unter unseres gleichen keine Sklaven halten. Ich möchte daher nicht länger über dein Leben verfügen. Wenn du bleiben magst, bist du uns herzlich willkommen. Aber wenn es dich in die Heimat zurückzieht, dann nutze deine Freiheit.«
Silanos bekam feuchte Augen und starrte lange Zeit aufs Meer. Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, bedankte er sich für Krates’ Gnade, bat aber auch darum bei ihnen bleiben zu dürfen. »Cornelius und seine Scipionen haben mich immer fair behandelt und ich werde ihnen das nicht danken, indem ich euch nun den Rücken kehre.«
Krates lächelte ihm glücklich zu und reichte ihm die Hand. Der Pisidier schlug ein und stimmte fröhlich einen Hymnos an, der die guten Wendungen der Glücksgöttin Tyche besang. Während ihm Krates zufrieden lauschte, stand Livia unvermittelt auf und verschwand unter Deck.
»Was ist denn mit dir los?« fragte Krates, als er sie schließlich in ihrer Kabine gefunden hatte.
»Das fragst du noch?« schrie ihn Livia an und läutete damit ihren ersten Ehestreit ein. »Wie kommst du überhaupt dazu Silanos freizusprechen?«
Krates lachte, was sie nur noch mehr in Rage versetzte. »Du scheinst mir nicht zugehört zu haben«, erklärte er ruhig. »Ich sagte ihm, dass wir Griechen keine anderen Griechen als Sklaven halten. Und da er ebenso griechischer Abstammung ist wie ich, ist mir der Gedanke, ihn auch nur einen Moment länger als Sklaven zu bezeichnen, zuwider.«
»Und was ist mit mir?« fragte sie mit Tränen in den Augen. »Bin ich etwa eine Griechin? Silanos gehörte nicht dir allein, sondern uns beiden. Bevor du ihn freisprachst, hättest du mich also wenigstens fragen können.«
»Na, wenn ich dich so reden höre, wäre deine Antwort sicherlich ein klares Nein gewesen.«
»Natürlich hätte ich nein gesagt, weil ich auf Silanos nicht verzichten möchte. Aber darum geht es auch gar nicht.«
»Meine Güte«, donnerte Krates, »wie kann man denn nur so verbohrt sein? Ihr Römer bildet euch ein, ihr hättet das Recht, eure Mitmenschen in die Arena zu schicken, wo sie sich gegenseitig abschlachten müssen. Und mit der gleichen Überzeugung glaubt ihr einen anderen Menschen als euer Eigentum bezeichnen zu dürfen. Weißt du, Livia, ich habe bei weitem nicht jede Unmenschlichkeit Roms akzeptiert, aber ich habe sie doch immerhin respektiert. Bei uns dagegen sind die moralischen Wertvorstellungen der zivilisierten Welt noch sehr angesehen. Und wenn du das nicht annehmen kannst, so versuche es doch wenigstens hinzunehmen.«
Zornentbrannt verließ er die Kabine und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Ignorantes Weibsstück! dachte er wütend. Was bildete sie sich eigentlich ein? An Deck traf er Silanos, der sich freundlich erkundigte, ob er ihm helfen könne, doch Krates schüttelte nur stumm den Kopf. Am Abend wechselten Krates und Livia kein Wort miteinander und noch während des nächsten Tages gingen sie sich, so weit das an Bord ihres Schiffes überhaupt möglich war, konsequent aus dem Weg. Die Zeit verstrich und Krates wurde sich seiner Überreaktion bewusst, die nicht nur grob, sondern gewiss auch ungerecht war. Er wollte sich mit Livia wieder vertragen und versuchte, sich bei ihr zu entschuldigen, doch sie wies ihn kühl ab.
»Dann lass uns wenigstens versuchen, unseren Streit aus einer neutralen Perspektive zu betrachten.«
Livia stierte ihn wütend an. Schließlich seufzte sie. »Ich sagte dir, dass Silanos nicht dein eigener, sondern unser gemeinsamer Sklave war und dass du mich vor deiner Entscheidung ihn freizusprechen wenigstens hättest fragen können. Beide Aussagen entsprechen so, wie ich sie gesagt habe, zunächst einmal der Wahrheit. Aber du hast daraus etwas vollkommen anderes gemacht. Und anstatt dir meinen Standpunkt anzuhören, wirfst du mir all diese Hässlichkeiten an den Kopf.«
Krates lächelte müde. »Na, dann erzähl mir, wie du es wirklich gemeint hast.«
Livia zögerte, doch schließlich schluckte sie ihren Unmut herunter. »Versetz dich doch mal in meine Lage, Krates. Ich segle hier mit meinem Göttergatten durch die fernen Wasser Asiens und das einzige, was mich noch mit meinem Zuhause verbindet, ist dieser Sklave, den uns Cornelius zur Hochzeit geschenkt hat. Was glaubst du denn, warum er das gemacht hat?«
»Keine Ahnung«, antwortete Krates. »Wahrscheinlich wollte er uns eine Freude machen.«
Livia schüttelte traurig den Kopf. »Cornelius wusste, dass ich mich durch Silanos an zuhause erinnert fühlen und diese Stütze dankbar annehmen würde, solange ich sie brauche. Aber er wusste auch, dass du ihn früher oder später freisprechen würdest, weil der Besitz eines Menschen einfach nicht deine Sache ist. Und ich wusste das genauso. Mein Zorn von vorgestern richtete sich also gar nicht gegen deine Großmut, ihn freizusprechen, sondern einzig gegen deine Ignoranz.«
Krates runzelte die Stirn, denn er ahnte, dass er sich fürchterlich daneben benommen hatte. Livia dagegen begann bitterlich zu weinen. »Ich hatte dich für sensibel genug gehalten, um den Erinnerungswert zu erfassen, den Silanos für mich hat. Aber du hast nicht nur das übersehen, sondern es offenbar auch gar nicht für nötig befunden mich vorher zu fragen, obwohl diese Entscheidung uns beide betraf. Und das macht mir Angst, Krates, vor allem, wenn du anschließend auch noch zynisch wirst und mir die gröbsten Hässlichkeiten an den Kopf wirfst.«
Krates war bleich geworden und zitterte. Er konnte Unrecht nicht leiden, aber von ihm selbst begangenes Unrecht war ihm unerträglich. Tränen der Selbstverachtung traten ihm in die Augen und er fühlte sich außer Stande ihr ins Gesicht zu blicken.
»Das war unser Streit aus einer neutralen Perspektive«, schloss Livia ihre Darstellung. »Und was machen wir jetzt damit?«
Krates wagte einen schüchternen Blick auf seine schöne Frau und verzog den Mund. »Ich habe dir weh getan und dich enttäuscht«, sagte er verlegen und wandte sich beschämt ab.
Livia musterte ihn mit immer weicher werdenden Blicken, bis sie ihm schließlich die Hand reichte. Krates nahm sie dankbar und drückte ihr einen entschiedenen Kuss auf den Handrücken. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen und dir sagen, dass es mir von ganzem Herzen leid tut. Meine Reaktion war unbeherrscht und grob, ungerecht und obendrein auch noch falsch. Ich verspreche dir, dass ich in Zukunft genauer zuhören werde.«
Livia blinzelte und schluckte. Dann stand sie auf, um ihn leidenschaftlich in ihre Arme zu schließen. Krates brauchte einige Zeit, bis er seine Schuldgefühle von sich abschütteln konnte, doch dann holte er sich von Livia alles, was er am Vortag nicht bekommen hatte.


»Morgen Mittag passieren wir die äolische Küste«, erklärte ihnen Telamon am Abend. »Sollen wir euch in Lesbos absetzen oder wollt ihr lieber in einen der Küstenhäfen?«
»Was ist mit Elaia?« fragte Krates.
»Das wird schwierig werden. Elaia ist der Marinestützpunkt der pergamenischen Flotte und als solcher Sperrgebiet.«
Krates lachte fröhlich. »Das sollte eigentlich kein Problem sein. Immerhin zähle ich noch immer zu den Freunden des Königs und kenne den Flottenkommandanten von Elaia persönlich.«
»Na dann«, lachte auch Telamon. »Versuchen können wir’s.«
Tatsächlich kamen ihnen am nächsten Tag zwei schnelle Trieren entgegen, die so zielgenau auf sie zusteuerten, dass sich jeder Kapitän ohne feste Absichten zu einer Umkehr entschlossen hätte. Doch Telamon blieb auf Kurs und drehte erst bei, als sich die beiden Kriegsschiffe direkt vor ihm befanden und ihn unmissverständlich dazu aufforderten seinen Kurs zu ändern.
»Wir wollen zu eurem Kommandanten Theodoros!« rief ihnen Telamon entgegen. »Wir haben euren Gesandten Krates an Bord und wollen ihn in Elaia absetzen.«
Die Trieren drehten bei und eskortierten das Schiff bis zur Hafeneinfahrt. Dort bewachten sie das Anlegemanöver und hinderten die Mannschaft an einem Landgang, bis Theodoros kam, um weitere Order zu geben. Als der Flottenkommandant endlich erschien, dauerte es eine Weile, bis er Krates erkannte. Doch dann ging alles ziemlich schnell. Er pfiff begeistert durch die Zähne und befahl seinen Soldaten, Krates beim Abladen seines Gepäcks zu helfen. Sie verabschiedeten sich von Telamon und wünschten ihm eine gute Weiterreise und gingen an Land.
»Wie geht es meinem braven Pferdchen?« erkundigte sich Krates, während sie über die lange Hafenmole zu den Kasernen gingen.
»Du meinst Pluto?« fragte Theodoros. »Nun, er steht hinten im Stall und galoppiert noch immer so feurig wie eh und je. Aber wenn ich es richtig sehe, braucht ihr noch zwei weitere Pferde und ein paar Maulesel. Wir werden sehen, was wir für euch da haben.«
Als Krates den Pferdestall betrat, hörte er das altvertraute Wiehern. Pluto hatte ihn schon von weitem erkannt und freute sich so unbändig, dass er fast aus seiner Box gesprungen wäre. Nach kurzer Zeit erschien ein Hauptmann mit zwei Pferden und drei Mauleseln. Sie vertäuten ihr Gepäck und schwangen sich in die Sättel. Krates bedankte sich für die treue Pflege seines Rappens und die tatkräftige Unterstützung, nahm seine Hausschlüssel entgegen und ritt mit Livia in Richtung Pergamon. Hinter ihnen trabten die Lastenesel und Silanos bildete das Schlusslicht.
»Wie gut es tut, endlich mal wieder zu reiten!« rief Livia vergnügt.
»Stimmt«, meldete sich Silanos von hinten, »an Bord dieser Schiffe rostet man ziemlich ein.«
Nach anderthalb Stunden gemütlichen Ritts erreichten sie das Eumenische Tor, dessen scharfer Knick Silanos in helle Begeisterung versetzte und durchquerten die Unterstadt. Sie zogen die lange Hauptstraße zur Akropolis hinauf, vorbei am unteren Markt und dem großen Gymnasion, und gelangten schließlich zu Krates’ Haus in der Telephosgasse. Zitternd vor Aufregung kramte er die Schlüssel hervor und schloss die Haus
tür auf. Alles war noch genau so, wie er es einst verlassen hatte und auch, wenn seine Abreise erst neun Monate zurücklag, kam es ihm doch vor wie eine halbe Ewigkeit.
»Oh, wie schön«, schwärmte Livia, die schon vorausgegangen war und jetzt in der Vorhalle zum Hauptraum stand. »Du hattest mir gar nicht erzählt, dass du einen Wasseranschluss hast.«
»Einen Wasseranschluss?« wiederholte Krates ungläubig.
»Ich meine den Laufbrunnen hier«, erwiderte sie und zeigte dabei auf die Seitenwand der Vorhalle.
Krates eilte zu ihr und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Offensichtlich war die neue Wasserleitung inzwischen fertiggestellt und irgendjemand hatte dafür gesorgt, dass auch er einen eigenen Wasseranschluss erhielt. Begeistert lief er zurück und leinte die Tiere an eine der Vorhallensäulen. Nachdem er die Haustür geschlossen und sein Gepäck in den Hof gestellt hatte, wies er Silanos die kleine Kammer neben dem Haupthaus zu und fragte, ob das in Ordnung sei.
»Es ist ein eigenes Zimmer, Krates, und das ist schon mehr als ich in Rom hatte. Danke.«
»Pflanzen«, murmelte Livia geschäftig. »Hier fehlen eindeutig ein paar neue Pflanzen.«
»Solange du sie gießt, kannst du so viele haben, wie du willst.«
Krates stieg mit ihr ins Obergeschoss und zeigte ihr das große Schlafzimmer und die Veranda, von der aus sie über die Dächer der Philetaireia bis in die große Ebene blickten.
»Oh, Liebster«, schwärmte sie glücklich und nahm ihn lachend in die Arme. »Nach deinen Erzählungen war ich mir sicher, an einen schönen Ort zu gelangen, aber das hier übertrifft doch wirklich alles.«
»Ich freue mich, wenn du dich hier wohlfühlst«, erwiderte Krates und küsste sie zärtlich auf die Nasenspitze.
Am liebsten wäre er gleich mit ihr losgelaufen und hätte ihr die Bibliothek gezeigt und sie Eumenes vorgestellt. Doch das konnte warten. Er wollte ihr lieber Zeit geben, um in aller Ruhe anzukommen und in ihrem zukünftigen Zuhause die ersten Trittsicherheiten zu finden.
Da die Speisekammer noch nichts zu bieten hatte, lud Krates seine Frau und Silanos zu einem Abendessen in der Stadt ein. Sie wählten ein Lokal am Fuße der Akropolismauern und aßen sich gründlich satt. Nach dem Essen bat Silanos, die Stadt ein wenig auf eigene Faust zu erkunden und ließ sich von Krates einen Zweitschlüssel geben. Er winkte ihnen zum Abschied und verschwand in den Gassen der Philetaireia. Krates nahm Livia in den Arm und schlenderte mit ihr über die große Hauptstraße zur Theaterterrasse. Dort setzten sie sich auf eine der Hangmauern und genossen den Ausblick in die Unterstadt und die weite Ebene hinter dem Nikephorion.
»Wie schön«, sinnierte Krates, »wenn man sieht, dass das Leben weitergeht.«
»Auch unser Leben geht weiter«, lächelte Livia. »Deines und meines, aber nicht nur in Pergamon, sondern auch hier in meinem Bauch.«
Krates brauchte eine Weile, bis er ihr wissendes Lächeln verstand. Schließlich fragte er leise: »Ist das dein Ernst?«
Livia nickte glücklich und nahm dabei zärtlich seine Hand. »Meine Regel ist schon seit fünf Wochen überfällig. Außerdem habe ich ständig eine leicht überhöhte Temperatur. Ein deutlicheres Zeichen gibt es nicht.«
»Bei allen Göttern«, flüsterte Krates stolz und konnte sein Glück kaum fassen. Liebevoll umschlang er seine Frau und legte schützend seine Hände auf ihren Bauch.