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Kapitel 18

Als Stratonike erschien, hatten sie ihr Frühstück gerade beendet. Hippias schob den Teller von sich und stand auf, denn er musste mit seinem Pferd noch zum Hufschmied. Stratonike fragte, ob sie fertig gegessen hätten und sie den Tisch abräumen dürfe. Krates nickte ihr freundlich zu und dachte über seine Zukunft in der Bibliothek nach. Eigentlich hatte er sich das alles ein bisschen anders vorgestellt. Er dachte an eine leitende Tätigkeit mit der Möglichkeit, zu forschen, zu unterrichten und zu publizieren. Doch nach allem, was er gestern von seinen Schreibern gehört hatte, konnte er seine Wunschvorstellungen wohl abschreiben. Die Bibliothek musste gut sortiert sein, das hatte absolute Priorität. Doch wie sollten sie zweihundertfünfundsechzigtausend Schriftrollen ordnen?
Plötzlich setzte er sich ruckartig auf und starrte die gegenüberliegende Wand an. Aber natürlich! fuhr es ihm durch den Kopf und er stand auf, weil ihn der Gedanke aus der Ruhe brachte. Erregt wanderte er in der Vorhalle auf und ab und verfolgte seinen Gedanken weiter. Sicherlich war es schöner, wenn die Regale alphabetisch, nach einzelnen Themen oder Autoren sortiert waren. Doch eine solche Ordnung war hier unmöglich, denn wo sollten sie all’ die neuen Schriftrollen hinstellen, wenn die alten Regale voll waren? Das Problem, auf das er sich konzentrieren musste, lag also gar nicht so sehr in diesem oder jenem Sortiersystem, sondern in der Menge der Schriftrollen. Und dafür gab es eigentlich nur eine Lösung, die so denkbar einfach war, dass er sich wunderte, sie in der Bibliothek nicht schon gefunden zu haben: Nämlich einen Katalog.
Er klatschte mit der Handfläche gegen eine der Vorhallensäulen und lachte. Es war denkbar einfach! Er würde die Holzschränke mit den Regalen durchnummerieren und die Schriftrollen so kennzeichnen lassen, dass man nicht nur ihre Inventarnummer erkannte, sondern auch ihren Aufbewahrungsort. Dann würde er die Schreiber bitten, von jeder Schriftrolle den Autor, seinen Titel, den Themenbereich und eine dreizeilige Zusammenfassung zu notieren. Diese Angaben konnten sie auf dünne Holztäfelchen schreiben, die dann in einem Extraregal im Hauptraum aufbewahrt und von jedem Besucher genutzt werden konnten. Krates war sich darüber im Klaren, dass dieses Vorhaben viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Aber seine Idee hatte zwei entscheidende Vorteile: Erstens war sie planbar, weil die Menge der zu katalogisierenden Schriften bekannt war. Und zum anderen mussten sie das System auch für zukünftige Generationen nie wieder ändern, weil es mit dem alten Bestand genau so gut funktionierte wie mit allen Neuzugängen.
Pfeifend ging er in sein Studierzimmer und setzte sich an den neuen Schreibtisch. Der Lehnstuhl, den Hippias für ihn ausgesucht hatte, war weich gepolstert und bequem. Als erstes brauchten sie unzählige kleine Holztäfelchen, die sie einerseits an die Schränke nageln, andererseits mit den Kurzbeschreibungen beschriften und in ihren Katalog einsortieren konnten. Er notierte sich noch das eine oder andere, dann klappte er seine Wachstafel zusammen und verließ eilig das Haus.
Am Horizont zogen ein paar Quellwolken auf und in der Unterstadt konnte er sehen, wie der Wind den Staub aufwirbelte. Wenn es stürmte, dachte er sich, würde man es hier auf dem Burgberg vermutlich unangenehm zu spüren bekommen. Als er das Athenaheiligtum betrat, überkamen ihn ernsthafte Zweifel. Die Idee der Katalogisierung war natürlich gut, aber sie hatte auch einen gewaltigen Haken: Sie war nämlich dermaßen einfach, dass er sich fragte, warum seine pergamenischen Vorgänger nicht schon vorher darauf gekommen waren. Und er wollte sich um keinen Preis lächerlich machen.
Krates schloss die Bibliothek auf und verneigte sich ehrfürchtig vor der marmornen Statue der Athena. Die Schreiber waren noch nicht gekommen und so nutzte er die Zeit, um einen Rundgang durch seine neuen Arbeitsräume zu machen. Erschrocken stellte er fest, dass seine Mitarbeiter nicht übertrieben hatten: Die Bibliothek befand sich tatsächlich in einem chaotischen Zustand. Die Schriften Platons lagen neben denen des Herodot und der Sappho in einem Regal. Im Nachbarschrank fand er die philosophischen Abhandlungen des Antenor und des Anthemides, die Reisebeschreibung des Antilochos und eine Tragödie des Antipatros.
Schließlich zog er eine kleine Schriftrolle aus dem Regal, deren Papyrus noch so frisch war, dass sie keine zehn Jahre alt sein konnte. Es handelte sich um ein Gedicht namens Alexandra, das ein gewisser Lykophron geschrieben hatte. Er überflog die ersten Zeilen und fragte sich schon, was seinen Vorgänger nur dazu bewogen haben mochte, solchen Schund einzukaufen, als er die Schrift das erste Mal absetzte und lächelte. Lykophron schrieb in Rätseln, einem Erzählstil, der in den letzten Jahren regelrecht in Mode gekommen war, doch die von ihm verwendeten Chiffren waren wirklich geistreich. Denn jede neue Metapher eines Namens, eines Tieres oder einer Landschaft, die der Leser mit einer entsprechenden Bedeutung belegen musste, konnte die Bedeutung seines Gedichts nachhaltig verändern. Die meisten Interpretationen führten ins Leere, andere dagegen waren durchaus interessant.
Krates saß auf einem der Tische im Hauptraum und dachte gerade über die Möglichkeit nach, der Alexandra eine Römerfreundliche Gesinnung zu unterstellen, als Leonidas in der Tür erschien und ihn höflich begrüßte. Krates erwiderte den Gruß und legte die Schrift beiseite. Kurze Zeit später erschienen auch Demetrios, Leukippos und Artemon und Krates bat sie sich zu ihm an den Tisch zu setzen.
»Ich hoffe«, begann er, »dass ihr gut geschlafen habt, denn wenn euch mein Plan gefällt, haben wir ab heute Großes vor.«
Dann erzählte er ihnen von seiner Idee die Bibliothek zu katalogisieren und schlug vor, dieses Vorhaben in zwei Schritten anzugehen. Der erste würde nur die Kennzeichnung der Schränke und Schriften beinhalten, sowie die Angaben zu den Autoren, Titeln und Themen. Wenn das geschafft und die Bibliothek somit endlich wieder in vollem Umfang nutzbar geworden sei, könnten sie sich an den zweiten Schritt wagen und die Zusammenfassungen schreiben.
»Wenn wir davon ausgehen, dass sich hier ungefähr zweihundertsiebzigtausend Titel befinden und jeder von uns täglich hundert Schriften katalogisiert, dann sind wir damit in eineinhalb Jahren durch.«
»Toll!« begeisterte sich Leonidas. »Und so wunderbar einfach. Aber für diese Aufgabe muss man doch eigentlich nur lesen und schreiben können. Wäre es da nicht sinnvoll, sich tatkräftige Unterstützung von außen zu holen, um die Katalogisierung zu beschleunigen?«
»Ein guter Vorschlag«, lobte ihn Krates, »über den aber letztlich der König entscheiden muss. Und da er davon noch gar nichts weiß, frage ich euch, was ihr von meinem Plan haltet. Soll ich mich für diesen Vorschlag stark machen?«
»Auf jeden Fall!« rief Leonidas und klatschte begeistert in die Hände. »Eine gut sortierte Bibliothek wird noch mehr Wissenschaftler anziehen als bisher. Und ein Zuwachs an Besuchern bedeutet auch immer einen Zuwachs an Ruhm und Einnahmen.«
»Na schön«, schloss Krates, »dann zählt ihr doch in der Zwischenzeit schon mal die Schränke durch und macht euch darüber Gedanken, nach welchem System wir bei der Katalogisierung vorgehen wollen. Ich werde derweil zu Brasides gehen.«
Die Schreiber freuten sich über den guten Start ihrer Zusammenarbeit und machten sich an ihre Aufgabe. Krates nahm seine Wachstafeln mit und begab sich eiligen Schrittes in den Turm, um mit dem Oberpriester zu sprechen. Als er ihn dort nicht fand, erkundigte er sich bei einem der Athena-Priester und erfuhr, dass sich sein Vorgesetzter zur Zeit beim König befinde. Krates überlegte kurz, ob er sein Anliegen lieber auf den Nachmittag verschieben sollte, doch er wollte nicht warten. Also nahm er all seinen Mut zusammen und ging zum Palast.
Der Hausdiener, der ihm die Tür öffnete, fragte nach seinem Begehr und deutete ihm an, dass sich der König gerade in einer Besprechung befinde. Als sich Krates nicht abwimmeln ließ, schüttelte er ungehalten den Kopf und wies ihn an, im Vorzimmer zu warten.
»Grüß dich Krates«, begrüßte ihn Eumenes kühl, als er ihn endlich empfing. »Das sind ja schon fast römische Gepflogenheiten, die du da an den Tag legst. Aber ich bitte dich, fasse dich kurz, denn ich habe nicht viel Zeit.«
Krates errötete und berichtete dem König von dem heillosen Durcheinander in seiner Bibliothek. Dann unterbreitete er ihm den Vorschlag der Katalogisierung. Er hatte sich ausgerechnet, dass er bis zum Jahresende Materialien im Wert von etwa zweitausend Kistophoren verbrauchen würde und sprach auch das zusätzliche Personal an. Eumenes war begeistert und auch Brasides zeigte sich von dem Vorhaben sehr beeindruckt.
»Eigentlich ja ganz einfach«, nickte der König. »Und dein Vorschlag gefällt mir. Die Kosten für das Material und die zusätzlichen Helfer werde ich übernehmen. Doch über eines musst du dir natürlich im Klaren sein: Dieses Projekt, das du dir da vorgenommen hast, dauert selbst mit zusätzlichen Hilfskräften weitaus länger als einen Monat. Das erfordert einiges an Disziplin und Organisationstalent. Bist du bereit, dich in diesen beiden Eigenschaften zu üben und den Erfolg deiner Sache anzustreben?«
»Das bin ich«, beteuerte Krates fest.
»Fein«, lächelte der König, »dann können wir uns das Gespräch, das wir nach Beendigung deines Probemonats führen wollten, eigentlich auch sparen. Wärest du mit einem Anfangsgehalt von zweihundert Kistophoren einverstanden?«
»Zweihundert Kistophoren pro Monat?« fragte Krates entsetzt.
»Ist dir das zu wenig?«
»Bei allen Göttern, nein! Ich wundere mich eher, dass Ihr mir so viel zahlen wollt.«
»Ich weiß, dass zweihundert Kistophoren viel Geld sind, aber du hast ja auch eine verantwortungsvolle Aufgabe. Und so lange du die bewältigst, bekommst du von Brasides monatlich dein Geld. Das Haus in der Philetaireia kannst du, wenn es dir gefällt, behalten.«
Krates wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Er hatte zwar nie daran gezweifelt, die Probezeitbedingungen erfüllen zu können, doch dass ihm Eumenes ernsthaft das Haus schenken würde, damit hatte er nicht gerechnet. Außerdem bezog er ab jetzt ein fürstliches Gehalt, von dem Kallisthenes in Tarsos nur träumen konnte.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?« lächelte Eumenes.
»N-nein …«, stammelte Krates. »Ich danke Euch.«
»Sieh lieber zu, dass wir dir danken können.«
Eumenes winkte ihm noch einmal zu und verschwand mit Brasides im Schatten der Säulenhallen. Als Krates ins Athenaheiligtum zurückkehrte, war er noch immer ganz benommen.
»Und?« empfing ihn Artemon. »Hast du mit Brasides sprechen können?«
»Mit Brasides und dem König«, erwiderte Krates, »und beide sind einverstanden.«
»Und die Hilfskräfte?« fragte Leonidas.
»Werden ausgesucht und vom König bezahlt.«
»Aber was ist denn noch? Du siehst so unglücklich aus.«
»Ich bin nur verwirrt«, lächelte Krates. »Eumenes hat mir eben ein Haus geschenkt und mir obendrein noch ein Gehalt angeboten, das wirklich alles übersteigt, was ich jemals für möglich gehalten hätte.«
»Willkommen in Pergamon!« lachte Leonidas. »Also, was ist jetzt? Wollen wir anfangen?«
»Natürlich«, erwiderte Krates, der sein Glück allmählich begriff und einige Mühe hatte nicht vor Freude an die Decke zu springen. »Beginnen wir am besten mit dem, was ihr in der Zwischenzeit erreicht habt.«
»Nun«, setzte Demetrios an, »wir haben hier sieben Räume, einhundertzwölf Schränke mit jeweils sechs Regalen und nach unserer letzten Zählung zweihundertfünfundsechzigtausenddreihundertundachtundachtzig Schriftrollen. Ich würde vorschlagen die Schriftrollen mit jeweils vier Zahlen zu versehen, die über den Aufbewahrungsort nach Raum, Schrank und Regalreihe Auskunft geben und natürlich auch die Nummer des Titels tragen. In unserem Katalog befinden sich diesen Zahlen dann unter den Angaben, die wir zum Autor, seinem Titel und dem Themenbereich machen wollen.«
»Das hört sich gut an«, befand Krates und bat Leukippos den Schreiner Alkamenes mit der Erstellung von fünfhundert Holztäfelchen zu beauftragen. Außerdem sollte er noch hundertzwanzig handtellergroße Holzschilder anfertigen, die sie beschriften und an die Regale nageln konnten. Artemon und Demetrios schickte er mit dem nötigen Kleingeld auf den oberen Markt, damit sie sich nach neuen Papyrusblättern und genügend Tinte umsehen konnten, da sich die Reserven der Bibliothek allmählich dem Ende neigten. Leonidas schließlich beauftragte er mit der Auswertung der alten Inventarlisten der Bibliothek, die vor fünfzig Jahren einmal begonnen, schließlich aber wieder aufgegeben wurden.
Während ihrer Abwesenheit fasste Krates einen Entschluss, für den man ihm noch Jahrzehnte später Lob und Anerkennung zollen sollte. Er verspürte den innigen Wunsch sich bei seinem König und Gönner Eumenes für dessen Freigebigkeit zu bedanken und er wusste auch sofort, wie er das anstellen wollte: Er würde noch einmal seinen Globus bauen und diesen dem Mouseion des Königs vermachen. Allerdings strebte er zwei Änderungen an; zum Einen sollte die Holzkugel, sofern sich dies technisch umsetzen ließ, von ebenso monumentaler Größe sein wie alles andere, was er bisher in Pergamon gesehen hatte. Zum Anderen ging es ihm diesmal nicht mehr nur um die Darstellung der homerischen Welt, sondern auch um die Projizierung sämtlicher Karten und Reisebeschreibungen von Europa bis nach Indien, die er in der Bibliothek auftreiben konnte. Er nahm sich vor noch heute darüber mit dem Schreiner Alkamenes zu sprechen und machte sich ein paar Notizen auf seinen Wachstafeln.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Überlegungen und als er aufblickte, sah er Ariston im Türrahmen lehnen.
»Na, Krates? Hast du dich gut eingelebt?«
»Ariston! Was machst du denn hier? Ich dachte, du seist in Karien?«
»Da war ich auch. Aber wie du siehst, bin ich heute zurückgekehrt. Kommst du hier klar?«
»Alles bestens«, lächelte Krates und ging mit Ariston in die Südhalle, um sich ein wenig die Beine zu vertreten.
»Für dich ist übrigens heute ein Brief angekommen. Wenn du willst, kannst du ihn gleich holen. Aber ich bin noch bis Sonnenuntergang da. Du kannst mich also auch später daran erinnern.«
»Ich werde ihn mir nachher abholen«, beschloss Krates.
»Wie du willst. Ich geh derweil zu Eumenes.«
Wenig später kehrten die Schreiber von ihren Aufträgen zurück. Da es schon spät am Nachmittag war und sie mit der Fortsetzung ihres Vorhabens ohnehin bis zur Auslieferung der bestellten Holztäfelchen warten mussten, gab Krates seinen Schreibern frei. Er erinnerte sie noch einmal an den vereinbarten Termin für ihr erstes gemeinsames Seminar am nächsten Morgen und schloss die Bibliothek ab. Dann verließ er das Athenaheiligtum, ließ den Palast rechts neben sich liegen und steuerte zielstrebig auf den länglichen Bau vor den Wachdepots zu. Links von ihm lag der Burggarten, ein riesiges freies Feld mit Wiesen und Bäumen und leuchtenden Blumenbeeten. Als er Aristons Amtsstube betrat, fand er ihn bei der Sortierung irgendwelcher Unterlagen.
»Ach ja, der Brief«, erinnerte sich Ariston und reichte ihm eine kleine Schriftrolle mit dem vertrauten Siegel des Timokrates.
»Ein schöner Ort zum Arbeiten«, stellte Krates fest und schaute fasziniert aus dem Fenster hinter dem Schreibtisch auf die weite Gebirgslandschaft östlich von Pergamon.
»Ja, ich habe hier, wenn du so willst, sehr nah am Wasser gebaut.« Als er Krates’ fragenden Blick sah, fuhr er schmunzelnd fort: »Die neue Wasserleitung, an der die Ingenieure dahinten in den Bergen bauen, wird eines Tages genau hier enden.«
»Aber wie wollen die denn das Wasser aus dem Tal hinauf bekommen? Für eine Brücke ist das ja wohl ein bisschen zu hoch, findest du nicht?«
»Druck«, antwortete ihm Ariston gelassen, »es läuft über Druck. Schau, es ist eigentlich ganz einfach: Stell dir einen Berg vor, auf dem sich oben eine Quelle befindet. Wenn die Quelle oben liegt und du bist unten, dann fließt das Wasser einfach von oben nach unten, richtig?«
»Richtig.«
»Gut. Und wenn du jetzt ein Rohr nimmst und das Wasser aus der Quelle nach unten führst, das Rohr aber auf der anderen Seite wieder nach oben biegst, wird das Wasser dem Rohr so lange folgen, bis es sich wieder auf der Höhe der Quelle befindet. Höher als die Quelle kann es nicht fließen, aber bis zu dieser Höhe eben schon. Und da der Burgberg niedriger liegt als die Quelle, fließt es hier problemlos rauf, verstehst du?«
»Und das funktioniert wirklich?«
»Na klar. Unsere älteren Leitungen, die in die Philetaireia führen, laufen schon seit über fünfzig Jahren so.«
»Und warum brauchen die mit der neuen Leitung so lange?«
»Wenn das Wasser in das Rohr nach unten schießt und an der anderen Seite wieder hinauf, dann entsteht an der untersten Stelle ein enormer Druck. Schon bei den älteren Leitungen konnte man diesen Druck feststellen, doch bei der neuen Wasserleitung, die auf die Akroplis führen soll, wird der Druck so stark werden, dass er selbst die dicksten Tonrohre einfach platzen lässt.«
»Interessant. Und wie wollen die Ingenieure dieses Problem lösen?«
Ariston zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Tonrohre jedenfalls sind dafür nicht geeignet, so viel steht fest.«
Krates nickte und nahm den Brief an sich.
»Na denn. Ich mach mich auf den Heimweg. Alles Gute.«
»Einen schönen Abend«, rief ihm Ariston hinterher.
Krates schlenderte an den Wachen des Burgtores vorbei und musste sich beherrschen, um den Brief nicht schon unterwegs zu öffnen. Die Hitze des Tages hatte etwas nachgelassen und die Nachmittagssonne stand so tief, dass der Herbst nicht mehr fern sein konnte.
Als er den Schreiner in seiner Werkstatt traf, erläuterte er ihm sein Vorhaben und diskutierte mit ihm über die möglichen Konstruktionsweisen. Da Krates den Globus an einer horizontalen Achse aufhängen wollte, empfahl ihm Alkamenes eine Hohlbauweise und demonstrierte ihm anhand eines kürzlich fertig gewordenen Werkstücks, wie sich Holz bei entsprechender Bedampfung verformen ließ. Der Schreiner schätzte, dass die von ihm anvisierte Holzkonstruktion einem maximalen Durchmesser von sechzehn Fuß standhalten könne und überschlug die dafür notwendigen Bauteile und Materialkosten. Zusammen mit dem Unterbau und dem Gestell, an dem der Globus aufgehängt werden sollte, würde er eine Höhe von über 20 Fuß haben. Und das war exakt die Größenordnung, die sich Krates für sein Dankesgeschenk an Eumenes vorstellte. Als der Schreiner mit den Arbeitsstunden eine Bauzeit von zwei bis drei Wochen und einen Preis von 120 Kistophoren veranschlagte, willigte Krates ein und gab ihm den offiziellen Auftrag.
Zuhause angekommen hörte er zu seiner Überraschung das Klappern von Töpfen.
»Hippias?« rief er verwundert.
»Nein, ich bin’s«, rief Stratonike zurück.
Krates begrüßte sie kurz und brachte den Brief in sein Zimmer. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn gleich zu lesen, doch das wollte er in Ruhe tun und die hatte er nicht, solange Stratonike in der Küche wirkte. Außerdem musste er noch sein Seminar vorbereiten.
»Was gibt es denn heute?« fragte er.
»Sei nicht so neugierig«, lachte sie. »Gib mir lieber die Pfanne.«
Krates reichte ihr die Pfanne und sah ihr beim Kochen zu.
»Ich sag’s dir nur ungern, Krates, aber irgendwie irritierst du mich. Hast du nicht irgendetwas im Haus zu tun?«
»Ich geh ja schon«, erwiderte er Krates mit gespielter Entrüstung, um seine wahre Enttäuschung zu verbergen. Warum wollte sie nicht, dass er in ihrer Nähe war? Hatte er irgendetwas falsch gemacht oder womöglich etwas Dummes gesagt?
Verwirrt nahm er sich einen Becher Wein mit in sein Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch, um sein morgiges Seminar vorzubereiten. Er brauchte eine Weile, bis er seine alten Unterlagen aus Tarsos wiedergefunden hatte und sich in die Grundlagen des Erkenntnisprozesses eingearbeitet hatte. Doch dann fand er recht schnell das passende Konzept und machte sich eilig ein paar Notizen auf seinen Wachstafeln.
Anschließend nahm er sich den Brief aus Mallos und wurde auf einmal tieftraurig. Er hatte noch keine Zeile gelesen und würde dieses Gefühl auch Jahre später noch nicht verstehen, aber er war sich ziemlich sicher zu wissen, was in dem Brief drinstand. Gelähmt vor Widerwillen ließ er sich in seinen Lehnstuhl zurückfallen und erbrach das Siegel. Dann setzte er den Weinbecher an und begann zu lesen.

Krates, mein Junge!

Ich glaube, ich habe noch nie einen Brief geschrieben. Deshalb verzeih mir, wenn ich einige Wörter nicht so trefflich finde, wie du es aus deinem jahrelangen Studium gewohnt sein magst. Der Grund, weswegen ich dir heute schreibe, ist leider kein Guter: Denn knapp drei Wochen nach deiner Abreise befiel mich eine geheimnisvolle Krankheit. Mittlerweile weiß ich, dass ich todkrank bin und bald sterben werde; der Husten in meiner Brust wird von Tag zu Tag schlimmer und ich kann dir nicht sagen, wie lange ich das noch aushalte.
Orthygia und Agathon sind sehr um mich bemüht und haben sogar schon einen Arzt kommen lassen. Aber seine Behandlung scheint nicht anzuschlagen und so bleibt mir vermutlich nur noch wenig Zeit. Doch das ist unwichtig, denn ich habe mein Leben gelebt und bereue keinen einzigen Moment. Wichtig ist mir nur, dass dich dieser Brief erreicht, damit du weißt, dass ich dich noch immer tief in meinem Herzen trage.
in Liebe, Mela.

Krates war zu erschüttert, um weinen zu können. Deprimiert leerte er seinen Weinbecher und ging auf die Galerie, um frische Luft zu schnappen. Kurz darauf kam Hippias nach Hause. Er hatte ein kleines Säckchen mitgebracht, das er vorsichtig in den Hof stellte, bevor er sein Pferd in den Stall führte.
»Was ist denn mit dir los?« erkundigte er sich, als er Krates erblickte, der soeben in den Hof gekommen war. »Hast du Ärger gehabt?«
»Das erzähl ich dir später. Was hast du da mitgebracht?«
»Sei vorsichtig«, bat ihn Hippias, als Krates das Säckchen öffnete und seinen merkwürdigen Inhalt betrachtete. »Die Sachen sind zum Teil recht empfindlich. Aber wenn das hier so klappt, wie ich es mir vorstelle, dann haben wir ab morgen einen ebenso zuverlässigen wie stubenreinen Hahn im Hause.«
Stratonike trat aus der Küche und schaute sie fragend an, doch Krates zuckte nur belustigt mit den Schultern. Hippias nahm seine Utensilien und setzte sich in den Hof. Er entnahm dem Sack drei mittelgroße Behälter aus Ton, zwei Korkteile und zwei Holzstangen sowie ein paar Bretter mit ausgesägtem Zahnschnitt und eine kleine Pfeife.
»So«, kommentierte er seinen Versuch die Dinge ineinander zu fügen. »Die Schwimmer sind schon mal fertig.«
»Was für Schwimmer?« fragte Krates, der sich nur zu gern von dem Brief ablenken ließ.
»Na, die Schwimmer von unserer Wasseruhr.«
»Du kannst Wasseruhren bauen?«
»Ich habe es mir heute erklären lassen. Und es ist gar nicht so schwierig. Halt das bitte mal.«
Und während er mit Krates die Wasseruhr zusammensetzte, erklärte er, wie sie funktionierte. Anschließend goss er eine große Schüssel Wasser in den mittleren Behälter und zog den Schwimmer nach oben. Mit gurgelnden Geräuschen lief das Wasser ab und entlockte der Pfeife einen so lauten Ton, dass sie vor Begeisterung in Gelächter ausbrachen.
»Meinst du, dass wir das bis nach oben hören?«
»Bestimmt!« lachte Krates. »Aber ich würde vorschlagen, dass wir die Wasseruhr besser auf die Galerie stellen. Dann wirst selbst du sie hören.«
»Naja«, lächelte Hippias verlegen, »das war ja auch der Hauptgrund, weswegen ich sie besorgt habe«.
»Dass du so etwas bauen kannst!« staunte Stratonike.
»Gelernt ist gelernt«, erwiderte Hippias mit einem triumphierenden Lächeln. »Aber jetzt habe ich Hunger. Hat uns die junge Dame schon etwas gekocht oder müssen wir in der Stadt essen gehen?«
»Ich bin soweit«, sagte Stratonike.
Sie deckte im Hauptraum und setzte ihnen schließlich einen leckeren Hasenbraten vor, der Krates und Hippias wehmütig an den kleinen Omikron erinnerte. Dann zog sie sich zurück und wünschte ihnen eine gute Nacht.
An diesem Abend waren sie beide redselig und erzählten sich lang und breit von ihren Arbeitstagen in der Bibliothek und auf der Großbaustelle der neuen Wasserleitung.
»Wo liegt denn da nun eigentlich das Problem?« fragte Krates.
»Das Problem«, erklärte ihm Hippias fachmännisch, »liegt im Material der Rohre. Wie du ja heute schon von deinem Bekannten gehört hast, entsteht in der Rohrstrecke, die ganz unten in der Talsohle liegt, ein ungeheurer Druck. Ton- und sogar Bleirohre sind für diese Strecke ungeeignet, weil sie diesem Druck nicht Stand halten könnten.«
»Und was wollt ihr dagegen unternehmen?«
»Wir sind noch am überlegen. Steinrohre wären optimal, aber die sind natürlich schwer herzustellen und wir brauchen davon ein paar tausend Stück. Bronze wäre die zweitbeste Lösung, ist allerdings reichlich teuer. Wie auch immer, ich schätze, es wird auf Stein oder Bronze hinauslaufen, zumindest für den Abschnitt in der Talsohle. Im oberen Bereich, wo die Leitung in die Akropolis mündet, werden wir auf jeden Fall Bleirohre verwenden.«
»Und wie wollt ihr sicherstellen, dass euch die Stein- oder Bronzerohre in der Talsohle nicht auseinanderfliegen?«
»Auch das haben wir schon herausgefunden. Denn du hast natürlich Recht: Selbst bei Stein- oder Bronzerohren sind die Verbindungsnähte immer noch ein Schwachpunkt. Deshalb werden wir die Verbindungen in riesige Steinmuffen setzen; große Blöcke, die in der Erde liegen und die Rohre durch ihr Eigengewicht zusammenhalten.«
»Das hört sich wirklich spannend an.«
»Beim Hephaistos, das ist es auch! Möchtest du noch etwas Wein?«
»Sei so gut.«
Sie prosteten sich zu und fühlten sich überaus erfolgreich.
»Eumenes hat mir übrigens das Haus geschenkt. Außerdem zahlt er mir ein Gehalt von zweihundert Kistophoren im Monat.«
»Sagtest du zweihundert? Meine Güte, Krates, sieh dich bloß vor!«
»Na, das sagt mir ja genau der Richtige!«
»Was soll das denn heißen?«
»Ich hatte mal einen Freund, der mir stolz verkündete, dass er keinen Palast der Welt gegen seine Vaterstadt eintauschen würde. Und jetzt baut dieser Freund für einen König Wasserleitungen.«
»He, komm«, versuchte sich Hippias zu verteidigen. »Was hätte ich denn sonst machen sollen? In der Küche stehen und Pfannen schwenken?«
»Ich sag doch gar nichts. Ich hätte es mir nur nie träumen lassen, dass wir beide eines Tages in Pergamon wohnen und für den gleichen König arbeiten.«
»Nein«, lachte Hippias breit, »ich auch nicht. Komm lass uns auf Mallos trinken!«
»Ja, da bin ich dabei«, erwiderte Krates. »Apropos Mallos: Ich habe heute einen Brief von Mela erhalten.«
»Oh, wie schön«, freute sich Hippias. »Und wie geht es ihr?«
»Sie wird bald sterben«, erwiderte Krates traurig und setzte seinen Becher ab. »Vielleicht ist sie auch schon tot, ich weiß es nicht. Der Brief wird sicher einige Wochen unterwegs gewesen sein.«
Hippias blickte seinen Freund mitfühlend an. »Mela war eine gute Frau und sicher auch, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, eine gute Ersatzmutter.«
»Ja, das war sie«, nickte Krates und lächelte, weil ihm spontan Melas Pfannkuchen einfielen, die zweifellos zu den besten gehörten, die er jemals gegessen hatte. Mela war immer für ihn dagewesen und hatte ihn vielleicht sogar noch mehr geprägt als sein Vater, der ja fast nie zuhause gewesen war und über dessen Leben er vieles erst von seinem Lehrer Dionysios erfahren hatte. Und am Ende seines Weges, auf dem sie ihn all die Jahre begleitet hatte, war er nun also nach Pergamon gekommen. Er besaß ein Haus und eine traumhafte Aufgabe, bezog ein fürstliches Gehalt und war von lieben Menschen umgeben. Krates dachte an die epikureische Einstellung, die ihm Agathon einst beigebracht hatte und schweifte mit seinen Gedanken zu Orthygia und ihrer kleinen Familie. Und plötzlich füllten sich Krates’ Augen doch noch mit Tränen. Aber er weinte nicht aus Verzweiflung, sondern vor Dankbarkeit und Glück.
Hippias hatte noch eine Amphore Wein geholt und schenkte ihnen nach. So kam Eines zum Anderen und ehe sie sich versahen, waren sie in Erinnerungen an ihre Jugendzeit versunken, an ihre abenteuerliche Reise nach Pergamon und ihre gemeinsamen Zukunftspläne, die sie bis in die frühen Morgenstunden erzählen ließ.