Friedliche Stille umgab ihn, als Krates am kommenden Morgen erwachte. Verschlafen blinzelte er von seinem Bett auf die goldenen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der undichten Fensterläden in sein Zimmer schienen. Feiner Staub lag in der Luft und glitzerte im Licht. Irgendetwas war anders als gestern und Krates brauchte eine Weile, bis er bemerkte, dass die Fanfaren und das blutrünstige Gejohle aus dem Circus Maximus fehlten. Es war noch zu früh, um schon aufzustehen, doch bei dieser herrlichen Stille konnte er das Fenster ruhig öffnen und ein wenig frische Luft ins Zimmer lassen. Warmes Licht flutete durch seinen Raum, als er die Fensterläden nach außen schob, und die frische Morgenluft duftete nach Pinien und Oleander. Krates nahm einen tiefen Atemzug und wankte benommen zu seinem Bett zurück. Verzückt von dem blumigen Duft drehte er sich noch einmal auf die Seite und schlief ein.
»Krates«, hörte er eine ferne Stimme rufen. »Wach endlich auf!«
Verschlafen blinzelte er ins Zimmer und suchte nach der schönen Frau, mit der er noch eben auf der Wiese gelegen
hatte, doch die Frau war ebenso verschwunden wie die Wiese.
»Krates«, hörte er Ariston erneut rufen. »Lebst du noch?«
»Ja, ja«, murmelte er müde, »ich komme ja schon.«
Als er in den Innenhof trat, sah er seine Gefährten, die mit ihrem Frühstück schon fast fertig waren und sich mit derben Späßen über ihn lustig machten.
»Ihr Eierdiebe!« schimpfte Krates lachend. »Ich träumte gerade von einer wunderschönen Frau und kurz bevor es zur Sache ging, müsst ihr mich wecken.«
Die Männer lachten und wünschten ihm einen guten Morgen. Er setzte sich zu ihnen an den Tisch und nahm sich, was vom Frühstück noch übrig geblieben war. Anschließend beriet er sich mit Ariston, wie er bei seinem Besuch im Hause der Scipionen auftreten sollte.
Der Tag verstrich und sie genossen die Ruhe ohne das Getöse aus dem Circus Maximus. Artemidoros nahm sich die Zeit, um einigen von ihnen die römischen Zahlen sowie die eine oder andere Redewendung beizubringen und Krates freute sich endlich wieder einmal etwas lernen zu können. Während die anderen schnell das Interesse verloren, übte er fest entschlossen mit Artemidoros weiter und begann schon am Nachmittag mit dem Nachsprechen kleinerer Sätze. Schließlich zog er sich in sein Zimmer zurück, um sich auf den Abend mit Scipio vorzubereiten und wählte die kostbarste Garderobe, die er aus Pergamon mitgenommen hatte. Als er sich mit Konon traf, der ihn ins Velabrum
begleiten und vor Scipios Haus auf ihn warten sollte, übte er noch einmal die Höflichkeitsfloskeln der römischen Begrüßung und suchte nach dem Holztäfelchen, auf dem ihm Scipio seine Adresse im Velabrum notiert hatte.
»Nervös?« fragte ihn Konon, als sie den Vicus Maximus verließen und auf den großen Platz des Forum Boarium zuhielten.
»Ein bisschen schon«, gab Krates zu und blickte nachdenklich auf den fernen Tempel des Portunus, das rege Treiben am Tiber und die gespenstisch aus seinen Wassern ragenden Pfeiler einer unvollendeten Brücke.
Sie folgten dem Vicus Jugarius, der in seiner Verlängerung zum Forum Romanum führte und hielten an der nächsten Kreuzung, um einen Händler nach dem
Weg zu fragen. Krates zeigte ihm hierzu das Holztäfelchen und der Mann redete wild gestikulierend auf ihn ein. Krates verstand kein Wort, aber er prägte sich die Handzeichen ein und bedankte sich sprachlich korrekt auf römisch. Der Wegbeschreibung folgend erreichten sie kurz darauf das Haus des Scipio.
»Nun gut«, sagte Konon, während der Hausdiener nach Scipio suchte, »ich geh dann mal. Viel Glück.«
»Krates?« rief ihn Scipio aus dem Dunkel des Hauses.
»Ja, ich bin’s«, antwortete er auf römisch.
Scipio schüttelte ihm die Hand und strahlte. »Herzlich willkommen! Tritt ein und fühl dich wie zu Hause.«
Krates bedankte sich auf römisch: »Es ist mir eine große Ehre.«
»Wann hast du das denn gelernt?«
»Sprich nicht so schnell«, bat ihn Krates. »Ich verstehe nicht.«
Scipio lachte. »Es ist immer ein Zeichen von Anstand, wenn ein Ausländer versucht sich in der Sprache der von ihm bereisten Länder zu verständigen. Aber ich glaube, wir unterhalten uns den Rest des Abends doch lieber auf Griechisch.«
Sie schritten durch den langen Eingangsflur in eine große Vorhalle, von der einige Räume abzweigten und die sich durch zwei riesige Pfeiler zu einem begrünten Innenhof öffnete. In der Mitte der Halle stand ein älterer Mann, der Krates freundlich zulächelte.
»Mein Name ist Cornelius Scipio«, sagte er in akzentfreiem Griechisch, »und ich freue mich, dich in meinem Hause willkommen zu heißen.«
Krates erwiderte die Geste mit einer höflichen Verbeugung.
»Scipio Aemilianus ist mein Adoptivsohn. Und so lange sein Vater auf dem Balkan dient, wohnt Scipio bei uns. Möchtest du etwas trinken, Krates?«
»Ein Orangensaft wäre mir angenehm, wenn ihr den habt.«
»Wir haben hier alles. Silanos!«
Der Diener erschien und nahm die Bestellung entgegen.
»Silanos?« erkundigte sich Krates interessiert.
»Sein eigentlicher Name«, erklärte ihm Scipio schmunzelnd, »ist Philoxenos. Aber wir haben ihn Silanos getauft, weil ihm die Haare manchmal so zu Berge stehen wie bei einem Satyr.«
Scipio fand das offenbar sehr komisch und nahm seine beiden Zeigefinger, um Krates die Hörner zu verdeutlichen, die
dem Haussklaven morgens auf dem Kopf wuchsen. Krates lachte, wenn auch mehr aus Höflichkeit, denn er musste unwillkürlich an Hippias denken, dem vielleicht ein ganz ähnliches Schicksal widerfahren wäre, hätte er ihn damals nicht freikaufen können.
»Wo kommt er denn her?« fragte Krates.
»Ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube, irgendwo aus Pisidien.«
Silanos kehrte zurück und brachte einen Becher mit frisch gepresstem Orangensaft.
»Ich danke dir«, sagte Krates in perfektem Pisidisch.
Silanos machte eine höfliche Verbeugung, ließ sich aber sonst nichts weiter anmerken. Vielleicht hat er seine Sprache schon verlernt, dachte sich Krates und nippte an seinem Orangensaft.
»Komm«, rief Scipio. »Ich wollte dir doch die Bibliothek zeigen.«
Sie verließen den Vorraum und schritten durch eine Säulenhalle in einen der hinteren Räume, der mit Schränken und Regalen vollgestopft war und an die zweihundert Schriften beherbergte. Krates zog ein paar Werke aus dem Regal und war schockiert. Was für ein Chaos, war sein erster Gedanke, doch er zwang sich zu etwas mehr Respekt: »Welch’ eine Vielfalt!«
»Nicht wahr?« prahlte Scipio. »Cornelius hat die Bibliothek begonnen und von ihm kommen die ganzen alten Schriften hier vorne. Aber seit geraumer Zeit kümmere auch ich mich um den Einkauf neuer Werke und ich interessiere mich ehrlich gesagt mehr für die Philosophie.«
Er führte Krates zu einem der hinteren Regale und präsentierte ihm stolz eine Schrift des Dionysios Thrax. »Ich hatte von ihm noch nie zuvor gehört, aber das ist in Rom auch nicht so einfach. Der Mann kommt aus Alexandria und schreibt vornehmlich über die Homerika.«
»Außerdem«, fügte Krates hinzu, »liebt er Hammelfleisch mit Bohnen und hegt einen unversöhnlichen Groll gegen die Pergamener.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Ganz einfach«, schmunzelte Krates, »er war mein Lehrer.«
Scipio starrte ihn ungläubig an, während Cornelius sein Interesse bekundete.
»Du hast in Alexandria studiert?«
»Nein, in Tarsos. Dionysios weilte vor elf Jahren als Gastdozent an der dortigen Akademie und da habe ich ihn
sozusagen hautnah miterlebt. Aber wenn mich nicht alles täuscht, müsstest du unsere Bekanntschaft auch in dieser Schrift finden.«
Scipio konnte es kaum glauben. Hastig rollte er den Papyrus auf und reichte ihn an Krates, der die Absätze überflog, bis er die Stelle gefunden hatte.
»Hier«, sagte er. »Dionysios schreibt: ›Krates stützt seine These auf die Lesart der ›gegenüber wohnenden‹ Völker, doch folgt man der Originalausgabe des Aristarchos, heißt es dort in Wirklichkeit: die ›benachbarten‹ Völker‹.«
»Zeig her«, bat Scipio und las die Stelle noch einmal.
»In vielen Punkten«, wandte sich Krates an Cornelius, »sind wir leider schon lange nicht mehr einer Meinung.«
»Dann veröffentlichst du also auch noch ab und zu?«
»In letzter Zeit bin ich kaum dazu gekommen. Und die Schrift hier ist ja auch schon fast ein Jahr alt. Aber wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich wesentlich mehr verfassen.«
»Wie schön«, freute sich Cornelius. »Ich schreibe auch.«
»Wirklich?« begeisterte sich Krates.
»Ja. Allerdings hauptsächlich Prosa und Geschichtswissenschaftliches. Was in Rom schon schwer genug ist, denn die meisten unserer Landsleute verstehen die Schrift eher als eine Notwendigkeit zur archivarischen Ordnung. Innerhalb eines solchen Weltbildes an Dichtung oder gar Philosophie zu denken ist nahezu unmöglich.«
»Und was ist mit Ennius?« mischte sich Scipio ein, der ihnen langsam in den Speisesaal folgte.
»Ach, Ennius«, seufzte Cornelius traurig. »Du musst wissen, Krates, dass wir letztes Jahr einen unserer besten Männer verloren haben. Ennius galt als der größte Schriftsteller, den Rom je besaß. Er verfasste die großen Annalen und ganze Epen, Gedichte und Epigramme, Tragödien und Komödien. Und er war uns freundschaftlich sehr verbunden, bis er vergangenes Jahr in seinem Haus auf dem Aventin verstarb. Ja, unser Ennius war ein großer Denker, doch selbst ihn haben die Leute lange Zeit nur für einen Spinner gehalten.«
»Das spricht aber für euch beide.«
»Was meinst du?«
»Nun, aller Anfang ist leicht. Schwierig wird es doch erst dann, wenn man auf Widerstand stößt und trotzdem weitermacht.«
»Cornelius!« rief einer der Männer freudig, die aus der Vorhalle in den Speiseraum traten.
»Publicius, mein Lieber, sei willkommen.«
Cornelius begrüßte seine Freunde und stellte ihnen Krates als besonderen Gast des Abends vor. Nach und nach machte er ihn mit den Senatoren Crassus Calpurnius, Marcus Fabricius und Tiberius Drusus bekannt sowie mit dem dicken Händler Publicius Clodius. Glücklicherweise waren sie nicht nur alle des Griechischen mächtig, sondern auch bereit die Abendkonversation in dieser Sprache zu führen, so dass ihnen Krates mühelos folgen konnte. Die Festgesellschaft legte sich in den Speiseraum und
ließ sich von den Hausdienern das Essen auftischen.
In der kommenden Stunde war Krates so sehr mit essen beschäftigt, dass er die Frage, die ihm Cornelius stellte, überhaupt nicht mitbekam. Er bemerkte nur die plötzliche Stille, schaute verwundert von seiner Gänsepastete auf und sah, wie ihn die Männer mit erwartungsvollen Blicken musterten.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln.
»Wie schön, wenn es dir schmeckt. Ich fragte dich eben nach deiner Herkunft. Magst du uns vielleicht davon erzählen?«
»Aber sicher«, freute sich Krates und berichtete ihnen von seiner Heimat in Kilikien, von seiner Ausbildung in Tarsos und dem Ruf nach Pergamon.
»Und jetzt leitest du also die Bibliothek von Pergamon?« fragte Tiberius Drusus.
»Ganz Recht«, erwiderte Krates und schmunzelte, weil er den Stolz, den ihm Ariston in seiner Rolle zugedacht hatte, noch nicht einmal spielen musste.
»Wie viele Schriften habt ihr denn?«
»Annähernd zweihundertsiebzigtausend.«
»Zweihundertsiebzigtausend?« wiederholte Scipio ehrfürchtig.
»Naja«, gab Krates zu bedenken. »Unsere Bibliothek ist ja auch die zweitgrößte auf der Welt. Da kommt einiges zusammen. Aber eigentlich und in erster Linie bin ich doch eher Philosoph.«
Marcus Fabricius räusperte sich umständlich. »Und was hat dich nach Rom geführt?«
»Die Neugierde«, lächelte Krates. »Ich hatte schon so viel von Rom gehört, dass ich ehrlich gesagt neugierig war. Deshalb habe ich meinen König gebeten seine Gesandtschaft nach Rom begleiten zu dürfen, um dort zu erfahren, was Rom wirklich ist.«
»Und?« fragte Cornelius mit einem Lächeln. »Was ist Rom?«
»Eine beeindruckende Metropole«, antwortete Krates ehrlich. »Aber ich vermisse doch eindeutig den bekennenden Sinn für die Wissenschaft und den Intellekt, der den Menschen in unserem Kulturkreis so wichtig ist.«
Die drei Senatoren nickten nachdenklich und warfen sich finstere Blicke zu.
»Das war wohl gesprochen«, befand Tiberius. »Rom braucht eindeutig mehr Geist. Aber deswegen ist die Gesandtschaft deines Königs wohl kaum hergekommen.«
»Natürlich nicht«, lachte Krates. »Soweit ich es verstanden habe, geht es mal wieder um die Galater.«
»Ach, die Galater«, wiederholte Crassus verächtlich und zog dabei die Silben dermaßen in die Länge, als spräche er von einem persönlichen Feind. »Ein ungehobeltes Volk, ungebildet und barbarisch und eine wahre Plage für die zivilisierte Welt.«
»Na schön«, schloss Tiberius und erhob sich schwerfällig, »dann werden wir deine Jungs ja sicher auch noch zu Gesicht bekommen.«
Publicius und die beiden anderen Senatoren erhoben sich ebenfalls von ihren Tischliegen, bedankten sich bei Cornelius und verließen das Haus. Auch Krates wollte aufbrechen, musste seinen Gastgebern zuvor aber noch versprechen sie bald wieder zu besuchen. Er bedankte sich für den wundervollen Abend und wankte hinaus auf die Straße.
Als er sich ein wenig betrunken, aber durch und durch zufrieden auf den Heimweg machte, hörte er plötzlich ein leises Pfeifen. Er blickte sich um und sah zu seinem Erstaunen Konon, der von der anderen Straßenseite auf ihn zukam. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis ihm Konon schließlich auf die Schulter klopfte.
»Und, mein Freund? Wie ist es gelaufen?«
»Ganz gut, würde ich sagen. Weißt du, wie spät es ist?«
»Noch drei Stunden bis Sonnenaufgang«, knurrte Konon.
»Meine Güte, und du hast die ganze Zeit gewartet.«
»Befehl ist Befehl.«
»Dann lass uns zusehen, dass wir ins Bett kommen.«
Wenige Stunden später hatte Krates einige Probleme mit dem Aufstehen. Ariston hatte freundlicherweise an seine Tür geklopft und ihn geweckt, sonst hätte er zweifelsohne verschlafen. Als er mit den anderen am Frühstückstisch saß, fühlte er sich noch immer leicht betrunken, hatte Schwindelgefühle und starke Kopfschmerzen. Krates erzählte seinen Delegationskollegen von dem Abend im Hause des Cornelius und stellte auch klar, dass nicht Scipio selbst der eigentliche Gastgeber war, sondern sein Adoptivvater. Aber er hatte immerhin mit drei Senatoren gespiesen, die allesamt Griechisch sprachen und die er mit seinen Ansichten ganz gewiss berührt hatte.
»Das hast du gut gemacht«, lobte ihn Ariston für seinen Einsatz und lehnte sich zurück. »Eigentlich sollten wir mit unserer Beratung auf Attalos warten, aber der scheint heute nicht mehr zu kommen.«
Nach einer hitzig ausgeführten Debatte einigten sie sich darauf sich nur auf die Galater zu konzentrieren, die zwar indirekt auch für Prusias kämpften, für die Römer aber die zweifellos eindeutiger identifizierbaren Vertragsbrüchigen darstellten. Attalos ließ sich an jenem Tag nicht mehr blicken. Da sie jedoch nichts Gegenteiliges hörten, gingen sie auch weiterhin davon aus, dass sich an ihrem Anhörungstermin nichts geändert habe und blickten dem folgenden Tag mit Zuversicht entgegen.
Krates wusste nicht, was ihn mehr störte, die Fanfaren oder das Gejohle der Zuschauer. Verärgert drehte er sich von einer Seite auf die andere und zog sich die Decke über den Kopf. Wie konnten die Römer nur so unsensibel sein, die Gesandtschaften an einem Ort wie diesem unterzubringen? Schließlich gab er es auf. Resigniert setzte er sich auf die Bettkante und schüttelte den Kopf. Dass dieses Morden aber auch schon so früh am Morgen beginnen musste. Er schob die Fensterläden auf und blinzelte in die noch tief stehende Morgensonne. Im Innenhof der Herberge traf er auf missmutige Gesichter. Offensichtlich war er nicht der einzige, dem diese Veranstaltungen auf die Nerven gingen. Ariston war gereizt und schweigsam, Stratios sogar schlecht gelaunt. Einzig die Soldaten und ihr Hauptmann schienen von all dem ungerührt und verspeisten schweigend und mit gutem Appetit ihr Frühstück. Schließlich schnaubte Ariston verärgert und schob seinen Teller von sich. »Wenn ich nur wüsste, wo Attalos bleibt. Meine Güte, in zwei Stunden müssen wir vor dem Senat erscheinen und er lässt uns hier hängen.«
Die Zeit verstrich und sie warteten schweigend. Schließlich erschien ein römischer Bote, der ihnen gelangweilt mitteilte, dass die Anhörung auf unbestimmte Zeit verschoben sei, da man sich noch nicht auf einen Ausweichtermin habe einigen können.
»Verdammt!« schrie Stratios aufgebracht und hieb mit aller Wucht auf den Tisch. Der Bote zuckte zusammen und wandte sich ab.
»Warte noch«, bat ihn Ariston. »Weißt du, wo sich Attalos gerade befindet?«
»So weit ich weiß, weilt er gerade mit dem Senator Sempronius Gracchus in Ostia.«
Ariston starrte den Boten ungläubig an. »Sagtest du: in Ostia?«
»Was ist daran so ungewöhnlich?« wunderte sich der Bote.
»Der Zeitpunkt«, erwiderte Ariston grimmig und sank müde auf seinen Stuhl. Während der Bote verschwand und sich die anderen Delegationsmitglieder lautstark über die Wendung ihres Falles beschwerten, wurde Stratios erstaunlich ruhig. »Diese Bastarde«, murmelte er immer wieder, »diese Bastarde!«
»Was ist?« fragte ihn Krates, der nichts Gutes ahnte. Nach und nach scharten sich auch die übrigen um den alten Mann, der die Zusammenhänge als einziger zu begreifen schien.
»Attalos ist ein hervorragender Feldherr«, begann Stratios mit bebender Stimme, »und ein würdiger Vertreter unserer Stadt, dessen Treue zu Pergamon und seinem Königsbruder unverbrüchlich ist. Doch er hat auch eine Schwäche. Beim Zeus, wie oft habe ich Eumenes empfohlen, dass er seine Brüder mehr in die Regierungsgewalt mit einbinden soll. Aber ihr wisst ja, wie er ist: ›Behandeln mich meine Brüder als König‹, pflegt er zu sagen, ›werde ich mich ihnen als Bruder zeigen. Begegnen sie mir aber als Brüder, so werde ich ihnen als König entgegentreten‹.«
Stratios verstummte und schüttelte sein greises Haupt. »Versteht ihr denn immer noch nicht, was hier gespielt wird? Wir hatten heute unseren Anhörungstermin, der aus unerklärlichen Gründen nicht stattfindet. Und das erfahren wir von irgendeinem unbeteiligten Boten, während sich Attalos in den Hafenvierteln von Ostia vergnügt. Ich habe ja keine Ahnung, was sie ihm derweil einzureden versuchen, aber ihr könnt mir glauben: Er versteht von den Reichsinteressen bei Weitem nicht genug, um die Hinterhältigkeit aller Konsequenzen zu durchschauen.«
»Du meinst«, unterbrach ihn Ariston, »sie könnten versuchen ihn auf ihre Seite zu ziehen?«
»Nun ja, das wird ihnen kaum gelingen. Aber vielleicht schaffen sie es, ihn von den Vorteilen einer Sache zu überzeugen, deren Nachteile sie ihm verschweigen und die zu erkennen ihm die Erfahrung fehlt. So würde sich auch der Auftritt des Sempronius Gracchus erklären, dem diese Herberge für Attalos zu unwürdig erschien und der ihn all die Tage so konsequent von uns ferngehalten hat.«
Ariston wandte sich kopfschüttelnd ab. »Also wirklich«, lachte er, »du siehst Gespenster. Ich bin sicher, dass Attalos’ Abwesenheit nichts mit den Hinterhältigkeiten zu tun hat, die du den Römern da unterstellst.«
Auch die anderen hatten ihre Schwierigkeiten den Verschwörungstheorien des Stratios zu folgen. Einzig Krates war davon überzeugt, dass der alte Arzt Recht haben könnte, zumindest mit der Schwäche, die er dem Königsbruder attestierte und die ihrem Auftrag zweifellos gefährlich werden konnte. »Nehmen wir an, dass du Recht hast. Was sollten wir dann deiner Meinung nach dagegen unternehmen?«
»Naja, wir könnten versuchen uns ein wenig umzuhören.«
Als sich Stratios am Abend zu ihnen an den Tisch setzte, war er müde und schweigsam, doch seinem zufriedenen Lächeln konnte Krates entnehmen, dass er offensichtlich etwas in Erfahrung gebracht hatte.
»Ein Sklave des Sempronius«, erklärte ihm Stratios nach dem Abendessen, »der sich ein kleines Zubrot verdienen will. Ich weiß mittlerweile auch, worum es geht und es ist so niederträchtig, dass ich kaum wage, es hier offen auszusprechen. Die einzige Frage, die es noch zu klären gilt und für die ich auch weiterhin auf die Informationen des Sklaven angewiesen bin, ist der Grund für Attalos’ Zögern.«
»Und worum geht es nun?« fragte Krates neugierig.
Stratios schüttelte zögerlich den Kopf.
»Wenn du es mir nicht sagst, weiß ich nicht, wie ich dir helfen kann.«
Stratios schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Du hilfst mir durch dein Vertrauen, Krates. Und das ist schon mehr als ich erwarten kann.«
Die Tage vergingen und sie hatten das Warten bald gründlich satt. Xenophon und Artemidoros gerieten immer häufiger aneinander und auch Ariston wurde von Tag zu Tag reizbarer. Eines Morgens dann erschien völlig unerwartet Attalos im Hof ihrer Herberge und spornte sie an sich schon einmal die Gesandtenmäntel anzulegen, da man sie noch am Mittag endlich anhören werde. Die gedrückte Stimmung der letzten
Wochen war im Nu verflogen, denn die von Attalos besungene Option der Heimkehr schien auf einmal zum Greifen nahe.
Geschlossen verließen sie die Herberge und wandten sich dem Forum Boarium zu, von dem aus sie über eine der Gassen des Velabrums aufs Capitol schlenderten. Da sie noch genügend Zeit hatten, besichtigten sie das Heiligtum des Jupiter und genossen den herrlichen Ausblick auf den Tiber und die Stadt. Als sich die Sonne allmählich ihrem Höchststand näherte, mahnte Attalos zum Aufbruch und führte sie zum Forum Romanum, um von dort auf das Comitium zuzusteuern. Artemidoros erklärte, dass sie auf der sogenannten Graecostasis Platz nehmen würden, einem gesonderten Raum innerhalb des
Versammlungsgebäudes, der für die ausländischen Gesandtschaften errichtet wurde, damit sie den Senatsverhandlungen über ihr Anliegen beiwohnen konnten. Attalos führte seine Gesandtschaft in den Rundbau des Comitiums und bat sie auf der kleinen Tribüne der Graecostasis Platz zu nehmen.
Krates setzte sich neben Ariston und bewunderte still die riesigen Ausmaße des offenen Gebäudes. Die Tribüne, auf der sie saßen, war nur ein kleiner Ausschnitt eines großen Runds aus theaterähnlichen Sitzreihen, die sich kreisförmig um einen mit Marmorplatten gefliesten Innenhof spannten. Jenseits der Graecostasis und befand sich die Curia Hostilia, eine Tribüne ausschließlich für die Senatoren, die leicht erhöht und von einem Holzdach geschützt war. Nach und nach füllten sich die Ränge mit
Ratsangehörigen und Zuschauern und Attalos zwinkerte seinen Gesandten aufmunternd zu.
»Da vorne sitzt übrigens mein Gastgeber«, lächelte er stolz in die Runde und nickte mit dem Kopf in Richtung des greisen Senators Sempronius Gracchus. Krates musterte den alten Mann und bemerkte dessen waches Interesse für Stratios, der rechts vor ihnen saß und mit finsterer Miene seinen Gedanken nachhing. In den hinteren Reihen der Curia entdeckte er schließlich auch die Senatoren Crassus Calpurnius und Tiberius Drusus und nickte ihnen lachend zu.
Als der Senat vollzählig war, gab man Attalos ein Zeichen, in die Mitte des marmornen Rundplatzes zu treten und sein Begehr vorzutragen. Attalos sprach kraftvoll und überzeugend. Er fasste die Übergriffe der vertragsbrüchigen Galater kurz zusammen, erklärte die militärischen Schwierigkeiten der pergamenischen Seite und die wirtschaftlichen Nachteile, deren Auswirkungen bei andauernder Aggression bis hierhin spürbar wären und appellierte schließlich an die Hilfe Roms, ihren pergamenischen Bundesgenossen tatkräftig beizustehen. Der römische Senat reagierte so prompt, dass nicht nur Stratios an der Aufrichtigkeit der Antwort zweifelte. Der Redner der römischen Seite verwies auf die Schwierigkeiten, die Rom derzeit mit den Puniern hätte und einen militärischen Beistand nahezu unmöglich mache.
»Wir kämpfen an zu vielen Fronten gleichzeitig«, fuhr der Römer fort, »und bewegen uns dabei sogar meist auf Feindesland. Aber ihr seid unsere
Bündnispartner und wir möchten euch nicht gänzlich abweisen. Wir schlagen dir daher einen Handel vor, Attalos, der nicht zu deinen Ungunsten ausfällt. Stürze deinen Bruder Eumenes von seinem Thron, nimm sein Reich und teile es mit Rom. Wir hätten somit das asiatische Küstenland, auf dem wir im Kriegsfall mit unserer Flotte landen könnten und du hast dein eigenes Königreich. Die Galater aber werden wir gemeinsam bis auf den letzten Mann niedermetzeln, so dass sie für euch nie wieder zur Gefahr werden können.«
Den pergamenischen Gesandten verschlug es den Atem. Geschockt wandte sich Krates zu Stratios um, doch der lächelte ihm nur grimmig zu. Das war es also, dachte sich Krates, der mit einem Schlag alles verstand, denn Attalos schien von dem römischen Vorschlag keineswegs überrascht. Ganz im Gegenteil: Seiner höflichen Zurückhaltung und der Beharrlichkeit, mit der er jeglichen Blickkontakt zu seiner Gesandtschaft vermied, konnte Krates vielmehr entnehmen, dass er diesen Vorschlag offensichtlich noch nicht einmal von sich wies.
»Nun«, hob Attalos mit einer leutseligen Geste an und räusperte sich umständlich.
»Warte!« rief Stratios, der aufgesprungen war und verzweifelt versuchte den Königsbruder zu sich zu winken. Doch die Senatoren kamen ihm zuvor: »Wenn du etwas zu sagen hast, dann sprich, denn es geht uns ja wohl alle etwas an. Und nenn uns gefälligst deinen Namen!«
»Was tut mein Name zur Sache, wenn ich noch nicht einmal die euren kenne?«
»Stratios!« fuhr ihn Attalos an. »Vergiss nicht, mit wem du hier sprichst.«
»Na schön«, erwiderte Stratios mit einer zornigen Verbeugung. »Gehen wir einmal davon aus, dass sich hinter dem römischen Angebot ganz redliche Absichten verbergen. Dass sie dir wirklich im Kampf gegen die Galater beistehen, dir dein Königreich schenken und dich anerkennen und den Neuerwerb des Küstenlandes nicht dazu nutzen, um dich mit all ihrer frisch gelandeten Truppenstärke zu zermalmen.«
Krates blickte den alten Mann ehrfürchtig an, der zwar mit bebender Stimme und zitternden Händen, aber immer noch kräftig und von seiner Meinung tief überzeugt gegen alle Gefahren anredete, die sich in diesem Moment vor ihm aufbauten; und der dabei sogar noch den Schneid besaß, die Argumente, um die es ihm eigentlich ging, so rhetorisch kunstvoll ins Gegenteil umzukehren, dass sie zwar unverfänglich klangen, jedoch auch immer noch unmissverständlich waren.
»Nehmen wir also an«, fuhr Stratios fort, »dass sich die Römer durch und durch ehrbar verhalten, wie man es von einem Bundesgenossen nicht anders erwartet.«
»Was dann?« blaffte ihn Attalos ungehalten an.
»Zur Sache!« mahnte auch der römische Redner.
Stratios wurde auf einmal bedenklich still und grinste über das ganze Gesicht. »Was nützt dir das, Attalos? Glaubst du ernsthaft, du hättest dann Ruhe? Einen solchen Handel geht kein Mann von Ehre ein, aber du hast auch unsere Bundesgenossen in Hellas und Asien vergessen. Wenn du dieses Angebot akzeptierst, kann ich dir eines garantieren: Die Galater wirst du los sein, doch an ihrer Stelle werden die Pisidier und Pamphylier stehen, die Ionier und die Karer, die Lyder und Phryger und wer sonst noch alles mit deinem Bruder verbündet ist. Es würde vermutlich keine zwei Monate dauern, bis dein neues Königreich ausradiert und vom Erdboden verschwunden ist.
Davon abgesehen sollte es mich wundern, wenn du Pergamon überhaupt lebend erreichst, denn eine Sache wie die, die dir die Römer hier vorschlagen, spricht sich schneller herum als du reiten kannst. Und da fallen mir auf dem Weg zwischen Rom und Pergamon doch einige Bündnispartner ein, die deinen Verrat nicht ohne weiteres hinnehmen würden.«
»Schweig, Mysier!« erzürnte sich der römische Redner.
Attalos dagegen hatte den Wink verstanden. Es gab an diesem Plan einfach zu viele Variablen, die sich nicht berechnen ließen und an deren negative Konsequenzen er auch nicht gedacht hatte. Die Stille nach Stratios’ Rede wirkte fast bedrohlich, doch Attalos fing sich rasch und nickte ihm entschlossen zu.
»Sehr überzeugend, dein kleines Plädoyer«, konstatierte er mit einer bewundernden Verbeugung. »Wie ihr seht, verstehen sich unsere Ärzte nicht nur aufs Heilen, sondern auch auf die Politik. Es tut mir furchtbar leid, aber ich muss euren Handel ausschlagen, da er mir nun nicht mehr vorteilhaft erscheint. Aber ich appelliere trotzdem an eure Ehre als Bundesgenossen, Pergamon und seinem König Eumenes im Streit mit den Galatern beizustehen.«
»Ich hätte nicht gedacht«, höhnte Sempronius Gracchus mit beißendem Spott, »dass es um die pergamenische Königsfamilie so schlecht steht, dass sie sich nun schon von ihren Ärzten beraten lassen muss.«
»Das lass meine Sorge sein«, erwiderte Attalos kühl.
»Wir werden sehen«, schloss der römische Redner. »Auf jeden Fall werden wir noch im Frühling nächsten Jahres ein paar Unterhändler nach Asien senden, die sich des Problems mit den Galatern annehmen sollen. Die Verhandlung ist damit beendet.«
»Puh!« seufzte Krates, als sich die Senatoren zurückzogen und er den hasserfüllten Blick des Sempronius Gracchus aufschnappte, der sich im Gehen mit einem anderen Senator unterhielt und dabei auf Stratios zeigte. »Ich glaube, wir sollten unseren Freund Stratios in den nächsten Tagen nicht aus den Augen lassen.«
Ariston nickte und wandte sich Attalos zu, der soeben auf die Graecostasis zurückkehrte. Doch dieser schloss nur die Augen und bedankte sich leise bei Stratios. Schweigend verließen sie das Comitium und eilten über das Forum Romanum zur Herberge zurück.
»Wartet!« rief jemand hinter ihnen und sie blickten sich um. Crassus Calpurnius kam auf sie zugelaufen und nickte den Gesandten mit verhaltenem Blick zu. Krates begrüßte ihn und fühlte sich ausgesprochen unwohl.
»Krates«, keuchte Crassus außer Atem, »es tut mir leid, aber sie waren in der Überzahl und wir konnten nichts
dagegen tun. Deshalb würden wir euch gerne heute Abend noch einmal einladen.«
»Wer ist wir?« fragte Ariston in scharfem Tonfall.
»Meine Kollegen Marcus Fabricius, Tiberius Drusus und ich.«
»Ich glaube kaum, dass das noch einen Sinn hat. Wir werden die Stadt morgen früh verlassen.«
Crassus wirkte verzweifelt. »Ich habe das nicht gewollt.«
»Das weiß ich«, antwortete ihm Ariston schon wesentlich freundlicher. »Aber du wirst hoffentlich verstehen, dass wir deine ehrbare Einladung abschlagen müssen.«
»Dann komm wenigstens du«, bat er Krates.
»Na schön, gib mir die Adresse«, sagte er knapp und ließ sich ein Holztäfel
chen reichen, auf dem die Anschrift eingeritzt war.
Sie verabschiedeten sich per Handschlag und ließen den aufgelösten Senator auf dem Forum zurück. Attalos holte mit weiten Schritten aus und eilte zornig zur Herberge zurück. Dort angekommen befahl er Xenophon die Pferde bis zum Morgengrauen startklar zu machen und ließ seine Zimmertür krachend ins Schloss fallen. Die Gladiatorenkämpfe waren zu Ende und der Hof empfing sie mit der versöhnlichen Stille, die sie in den letzten Tagen so sehr vermisst hatten.
Krates setzte sich auf die Steinstufen des Innenhofes und fühlte sich elend und leer. All das Warten und Hoffen, die Mühen ihrer Reise und ihre Beratungen schienen vergebens, denn letztlich waren sie keinen Schritt weiter gekommen. Doch entsprach das den Tatsachen? Er nahm sich vor, Ariston danach zu fragen, entschied sich aber dagegen, wandte sich ab und ging auf sein Zimmer, um seine Sachen zu packen. Verbitterung und Enttäuschung krochen in ihm hoch und er warf sich wütend aufs Bett. Irgendwie musste er dabei eingeschlafen sein, denn als er wieder erwachte, begann es bereits zu dämmern. Er kehrte in den Hof zurück und gab Ariston Bescheid, dass er nun zu Crassus gehen wolle.
Ariston nickte traurig. »Komm nicht so spät.«
»Keine Sorge«, antwortete Krates und verließ die Herberge.
Wenn er es richtig verstanden hatte, musste die Villa des Crassus auf der dem Forum zugewandten Seite des Palatinus liegen. Er überquerte das Forum Romanum, zeigte einem der Passanten sein Holztäfelchen und ließ sich den Weg zum Clivus Palatinus erklären. Das Haus des Senators lag sogar noch um einiges schöner als das des Cornelius im Velabrum. Schon von der Straße aus hatte man einen atemberaubenden Ausblick auf die gegenüberliegenden Hügel und in die weite Tiberebene.
»Tritt ein«, begrüßte ihn Crassus, als er an seine Tür klopfte.
Krates war noch immer mit der Schönheit dieses Ortes beschäftigt und bedankte sich höflich auf römisch. »Hier lässt es sich leben«, lächelte er aufmunternd.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Crassus das Lächeln.
Sie betraten einen großen Raum, ganz ähnlich wie er ihn schon im Hause des Cornelius gesehen hatte und ließen sich
auf einer steinernen Bank im kunstvoll bepflanzten Innenhof nieder.
»Wie friedlich es hier ist«, staunte Krates.
Crassus dagegen schien weitaus weniger entspannt, ja, er machte einen regelrecht nervösen Eindruck. »Hör mal«, begann er schließlich, »dieser Senatsbeschluss war wirklich das Unverschämteste, was ich je erlebt habe. Er war niederträchtig und demütigend und …«
»Schluss jetzt!« unterbrach ihn Krates, der sich nur ungern von dem Genuss seiner Entspannung löste. »Politisch gesehen war es doch ein genialer Spielzug, der außerdem dazu führte, dass es unsere Seite war, die ein weiteres Bündnis mit euch abgelehnt hat. Dass euer Angebot durch und durch unmoralisch war, nun gut … Ich kann wahrlich nicht behaupten, dass ich et
was derartiges erwartet hätte, aber wirklich verwundern tut es mich auch nicht.«
Crassus blickte betreten zu Boden und schaute auch nicht auf, als sich ihnen Marcus und Tiberius näherten, die Krates verlegen zunickten, zumal sie seinen letzten Satz mit angehört hatten.
»Also, ich weiß ja nicht, wie euch das geht«, brach Krates das Schweigen. »Aber ich habe Hunger.«
»Dann sollten wir etwas essen«, sagte Crassus versöhnlich.
Es folgte ein langer und geselliger Abend, der alle Spuren ihrer vorherigen Verstimmung verwischte. Sie diskutierten über die intellektuellen Strömungen, die es natürlich trotz allem in Rom gab und die Senatoren bedauerten es fast ein wenig, dass Krates morgen schon wieder abreisen musste, hätte er doch mit seinen Ideen noch so viel Gutes für ihre Stadt tun können. Gegen Mitternacht dachte Krates zum ersten Mal an den frühen Aufbruch und drängte zu einem baldigen Ende ihres Gastmahls. Der Abschied wurde wider Erwarten sehr herzlich und am Ende nahmen sie sich sogar gegenseitig in die Arme.
»Leb wohl, Krates«, riefen sie ihm nach.
»Und viel Glück für die Reise.«
Krates winkte ihnen noch ein letztes Mal zu und verschwand in der Dunkelheit. Er hatte ein wenig die Orientierung verloren, zumal er auch wieder einmal viel zu viel getrunken hatte. Der ehemals klare Abendhimmel hatte sich in den letzten Stunden mit dichten Wolken zugezogen und so umgab ihn nun pechschwarze Finsternis. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf die wenigen Lichter der unter ihm liegenden Stadt. Verzweifelt versuchte er irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, an dem er sich orientieren konnte. Im Grunde genommen musste er ja nur den Palatinus überqueren, doch er hatte Angst sich zu verlaufen. Da er nichts fand, woran er seinen Standpunkt fest machen konnte, folgte er einfach der Straße vor Crassus’ Haus.
Der Weg führte ihn auf die Hügelkuppe des Palatinus und war schon längst nicht mehr von Häusern gesäumt, auch wenn sich Krates zu erinnern glaubte, über dem Circus Maximus eine relativ dichte Bebauung gesehen zu haben. Irgendwo rechts von sich sah er einen Tempel, dessen dunkle Silhouette sich nur undeutlich vom schwarzen Nachthimmel abzeichnete. Mühsam konzentrierte er sich auf den Straßenverlauf und stapfte mutig bergab. Was für ein Abend, dachte er vergnügt. Mit Crassus, Marcus und Tiberius ließ es sich wunderbar diskutieren. Sie waren genau so wie Cornelius Männer von Format und hatten keinerlei Mühe, sich selbst in die kompliziertesten Zusammenhänge hineinzudenken, die wahrlich … Plötzlich war der Boden weg.
Für den Bruchteil eines Moments dachte Krates, er müsse sterben, doch der dumpfe Aufschlag und der reißende Schmerz in seinem Bein und an seiner Schläfe brachten ihn schlagartig in die Realität zurück. Benommen fasste er sich an den Kopf und spürte etwas Warmes und feuchtes. Er versuchte aufzustehen, brach aber gleich wieder zusammen. Unter ihm gurgelte und sprudelte es und roch verdächtig nach Exkrementen. Eine ganze Weile saß er da und wusste weder, wo er sich befand, noch was er jetzt machen sollte. Er tastete um sich, stellte fest, dass er sich in einer Art Schornstein befand und begriff allmählich, was passiert war: Er war in einen offenen Abwasserschacht gefallen. Aber warum waren diese auf dem Palatinus unverschlossen? Er versuchte noch einmal sich zu erheben und sank abermals in sich zusammen. Diesmal jedoch war es nicht der Schmerz, der ihn am Aufstehen hinderte; sein rechtes Bein wollte ihm nicht mehr gehorchen und er geriet in Panik.
Er fing an um Hilfe zu rufen. Erst leise, dann immer lauter, bis er schließlich aus vollem Halse schrie. Die Zeit verstrich und es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, doch nichts geschah. Der Schmerz und die Verzweiflung brachten ihn zum Heulen. Außerdem stank es in seinem Verlies dermaßen, dass ihm übel wurde. Er verteilte seine Hilfeschreie auf regelmäßige Abstände, zählte dazwischen immer wieder bis fünfzig und schrie von neuem. Irgendwann im frühen Morgengrauen hörte er schließlich eine Antwort. Er halbierte die Abstände seiner Schreie und krächzte am Ende nur noch hysterisch vor sich hin, bis man ihn gefunden hatte.
Die Männer, die ihn aus dem Kanalschacht zogen, amüsierten sich köstlich, doch als sie erkannten, dass Krates verletzt war und nicht mehr gehen konnte, redeten sie wild auf ihn ein. Er spürte, wie ihn seine Kräfte verließen, deshalb nannte er nur immer wieder den Namen seines Gastgebers, bis ihn die Männer endlich schulterten und zu Crassus’ Haus trugen. Es dauerte eine Weile, bis jemand auf das starke Klopfen an der Haustür reagierte. Doch nachdem der Haussklave geöffnet und schließlich sogar seinen Herrn geweckt hatte, ging alles ziemlich schnell. Der Senator nickte müde und nahm ihn bei sich auf. Er sorgte dafür, dass Krates gewaschen und vorsichtig auf ein weiches Bett gelegt wurde und ließ nach einem Arzt schicken. Krates selbst bekam von alledem nichts mehr mit. Er genoss nur das goldene Licht der Fackeln, die vertrauten Stimmen und die Wärme der Decken und fiel in einen tiefen Schlaf.