Der Frachtensegler nahm langsam Fahrt auf und glitt mit majestätischem Schwung aus der Hafeneinfahrt von Apollonia aufs offene Meer. Die Matrosen hatten der Gesandtschaft einen ähnlichen Schutzraum zugewiesen, wie sie ihn auch schon auf der heimatlichen Triere in Anspruch genommen hatten und so lagerten sie am Abend ihres ersten Seetages auf den ausgebreiteten Fellen und Decken, während sie der Seegang allmählich in den Schlaf wog.
Am nächsten Morgen hatte sich der Himmel etwas eingetrübt. Der Wind hatte deutlich nachgelassen und konnte sich nicht entscheiden, aus welcher Richtung er blasen wollte, und der einsetzende Nieselregen nässte sie langsam durch. Über lange Strecken hörten sie nur die Wellen, die gegen den Bug klatschten und unter dem Schiff gurgelten, das Schlagen der Fallseile und das Flattern des Segels. Artemidoros und Xenophon setzten sich bald zu den Soldaten, um mit ihnen zu würfeln, während sich Attalos und Ariston um irgendeinen Sachverhalt stritten. Stratios lehnte an der Schiffswand und schrieb an einem medizinischen Aufsatz, Krates dagegen hatte sich hingelegt und schlief.
Gegen Nachmittag sahen sie ein paar Möwen, die über dem Schiff kreisten und endlich rief einer der Matrosen Land aus. Schlagartig krochen sie aus ihrem Verdeck und stellten sich an die Reling, um auf das ferne Ufer der kalabrischen Küste zu blicken. Die schwarzen Berge rückten näher und näher und schließlich erkannten sie auch das helle Leuchtfeuer von Brundisium. Die Sonne war längst untergegangen, als sie den Hafen erreichten und das Schiff an der äußersten Mole anlegte.
Artemidoros erkundigte sich bei einem der Fischer nach der Stadtwache. Der Fischer krächzte die Antwort in einer für die anderen unverständlichen Sprache und wies dabei auf das Zentrum der spärlich beleuchteten Stadt. Artemidoros gab ihnen ein Zeichen und so wanderten sie mit ihrem Gepäck über den Schultern in das Gassengewirr der Altstadt. Nach einigen Orientierungsschwierigkeiten fanden sie einen Hauptmann, der sie zu einer gehobenen Herberge führte.
Krates erwachte von dem fremdartigen Singsang einer Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte. Offenbar war irgendeine Frau auf der Straße mit etwas nicht einverstanden, jedenfalls schimpfte sie aus vollem Halse. Aber es hörte sich gar nicht nach schimpfen an, sondern eher nach einer Mischung aus Lachen und Jammern. Belustigt schwang er sich aus dem Bett und öffnete die Fensterläden. Der Himmel musste sich über Nacht aufgeklart haben, denn die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das Fenster und
warfen sein Zimmer in ein warmes Morgenlicht.
Nach dem Frühstück machten sich Xenophon und Artemidoros auf die Suche nach dem hiesigen Pferdemarkt, während Attalos und Krates noch am Tisch sitzen blieben.
»Und wie kommen wir von hier aus nach Rom?« fragte Krates.
»Nun, wir reiten morgen nach Metapontum. Dann über die lukanischen Berge an die Westküste und von dort über Kampanien in die Provinz Latium.«
»Was für eine absurde Entfernung.«
»Der Weg nach Indien war länger«, schmunzelte Attalos.
»Wird man uns denn in Rom sofort anhören?«
»Ich kann es nur hoffen. In der Regel haben die Bundesgenossen immer eine
Art Vorrecht. Aber ich habe auch schon von Gesandtschaften gehört, die drei Wochen warten mussten.«
»Drei Wochen?« wiederholte Krates fassungslos.
»Ich denke, wir werden schneller drankommen.«
Gegen Mittag kehrte Xenophon mit zwölf Pferden zurück, aber er sah nicht sonderlich glücklich aus.
»Sind die Pferde nicht in Ordnung?« erkundigte sich Attalos.
»Die Pferde schon«, äußerte Xenophon ärgerlich.
»Aber?«
»Mein Dolmetscher nicht. Wie soll ich anständig verhandeln, wenn er jedes Verkaufsargument falsch übersetzt?«
»Woher willst du das denn wissen?« fauchte Artemidoros. »Du sprichst doch gar kein Kalabrisch.«
»Also hör mal«, donnerte Xenophon, »geht das denn schon wieder los? Wenn ich theatralisch aushole und dem Kürbiskopf von Pferdehändler mit aller Inbrunst sage: ›Die Pferde sind zu alt!‹ und du machst daraus etwas, was sich anhört wie ›es könnte sein, dass die Pferde ein wenig älter sind als ich gehofft hatte‹, dann ist da doch was faul!«
»Schluss jetzt!« fuhr Attalos dazwischen. »Wie viel habt ihr für die Pferde gezahlt?«
»Dreißigtausend Denare. Das entspricht etwa siebentausenddreihundert Kistophoren.«
»Das ist zu teuer«, befand Attalos kopfschüttelnd.
»Ja, was denn?« knurrte Xenophon. »Soll ich sie zurückgeben?«
»Nein, natürlich nicht. Aber du, Artemidoros, solltest in Zukunft etwas wörtlicher übersetzen.«
»Das entspricht aber nicht den hiesigen Gepflogenheiten.«
»Hört euch das an!« lachte Attalos zynisch. »Glaubst du wirklich, dass sich die hiesigen Händler an irgendwelche Gepflogenheiten halten?«
Artemidoros wurde rot und verstummte.
»Können wir also auch in Zukunft mit dir rechnen?«
»Natürlich«, antwortete Artemidoros gereizt. »Warum denn nicht?«
»Fein. Und gewöhn dir gefälligst einen anderen Ton an, wenn du mit mir sprichst.«
»In Ordnung«, sagte der Dolmetscher und blickte ihm dabei wieder fest in die Augen. »Es tut mir leid.«
Ihre Abreise am nächsten Morgen kam ihnen allen wie eine Erlösung vor. Sie verließen Brundisium und ritten über das kalabrische Grenzgebirge bis nach Metapontum. Die nächsten Tage führten die Gesandtschaft in die lukanischen Berge, ließ sie zahlreiche Flüsse überqueren und nach Paestum gelangen. Von dort folgten die Männer der Handelsstraße nach Sâlernum, passierten den Golf von Neapolis und die Auruncischen Berge, bis sie schließlich nach Terracina kamen, der letzten Station vor ihrer Ankunft in Rom.
Am nächsten Morgen ritten sie noch vor Sonnenaufgang los, denn sie wollten ihr Ziel dringend vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Nach einem anstrengenden und auch für die Pferde ermüdenden Ritt gelangten sie schließlich auf die Via Latina, die sie nach weiteren zwei Stunden zur Via Appia und auf dieser bis vor die Tore von Rom führte.
Als sie endlich vor der Porta Capena standen und auf Attalos und Konon warteten, die beim Wachpersonal nach einem römischen Beamten fragten, in dessen Begleitung sie die Stadt erst betreten durften, hatte Krates Gelegenheit sich in Ruhe umzusehen. Er betrachtete die gewaltigen Stadtmauern und Gräben und bewunderte die prunkvollen Grabanlagen seitlich der Via Appia. Und schon diese ersten Eindrücke ließen ihn schaudern, weil er eine so große Stadt noch nie zuvor gesehen hatte. Attalos gab ihnen per Handzeichen zu verstehen, dass sie absitzen und die Pferde irgendwo anleinen sollten, weil es vermutlich länger dauern konnte, bis der römische Magistrat am Stadttor eintraf.
»Das muss schwer sein«, bemerkte Ariston und deutete mit dem Kopf auf Attalos, der noch immer an der Porta Capena stand und mit einem der römischen Wachsoldaten verhandelte.
»Was?« fragte Krates.
»Nun ja, Attalos ist hier nichts weiter als ein Bittsteller von vielen. Seine königliche Abstammung ist den Römern egal und er wird von ihnen genau so herablassend behandelt wie jeder andere dahergelaufene Barbar. Dabei hätten sie ohne charakterstarke Feldherren wie ihn einige Probleme mehr zu bewältigen. Aber das zu erkennen ist wohl zu viel verlangt.«
»Na, das solltest du wohl nicht zu laut sagen.«
»Ach, das ist ja noch harmlos. Weißt du, die meisten Römer, mit denen ich jemals zu tun hatte, sind dumm. Sie sind arrogant, eingebildet und so sehr von sich überzeugt, dass es manchmal schwerfällt, sie überhaupt noch ernst zu nehmen. Aber wer wirtschaftlich und militärisch stark genug ist, um jeden niederzustrecken, der nicht bereit ist den eigenen Unsinn mitzumachen, kann sich diese Dummheit offensichtlich leisten.«
Krates lachte, bis ihm die Tränen kamen.
»Aber das solltest du lieber für dich behalten.«
»Keine Sorge.«
Hinter dem Tiber, dessen Ufer sie durch die Pinien und Gräber gerade noch erahnen konnten, ging schon die Sonne unter, als am Stadttor plötzlich Bewegung aufkam. Eine Gruppe römischer Soldaten war erschienen sowie ein ranghoher Beamter, der sich mit Attalos unterhielt und dann zu seiner Gesandtschaft herüberschaute. Attalos gab ihnen ein Zeichen und sie folgten dem Römer, von Soldaten umringt in die Stadt. Staunend und sichtlich irritiert führte Krates sein Pferd durch die breiten Straßen und starrte auf die vierstöckigen Häuserblöcke mit ihren unzähligen Balkonen, Fenstern und Läden. Kein Baum und kein Strauch war zu sehen, stattdessen nur Steine, Ziegel und Menschen. Aus den Tavernen drang der Lärm der Betrunkenen, während die Händler lautstark ihre Läden schlossen.
Krates blickte nach links auf die haushohen Mauern eines Gebäudes, von dem ihm Artemidoros erzählte, dass es sich um die Rückwand des Circus Maximus handele. Rechts vor ihnen ragte ein steiler Hügel auf, an dessen Fuß sie stoppten, um von dem römischen Beamten einer Herberge zugewiesen zu werden, die sie aufnehmen sollte. Der Beamte, der halbwegs Griechisch sprach, wünschte ihnen einen angenehmen Aufenthalt und zog mit seinen Soldaten wieder ab.
»Da wären wir«, lächelte Attalos knapp und brachte sein Pferd in den Stall. Die Herberge war schlicht, aber dafür wenigstens ruhig gelegen, sofern das in dieser Stadt überhaupt möglich war. Krates hatte sich schon oft darüber gewundert, dass sie immer Einzelzimmer nahmen, anstatt sich, wie es ja wohl auch billiger wäre, die Zimmer mit mehreren zu teilen. Doch nun, da sie ihr Ziel endlich erreicht hatten und immer noch mit der Ungewissheit leben mussten, vielleicht erst in zwei Wochen angehört zu werden, kam ihm sein Einzel
zimmer sehr gelegen. Er prüfte die Matratze seines Bettes und war zufrieden. Dann stellte er die Reisesäcke neben den Schrank und begann mit dem Auspacken. Als er damit fertig war, nahm er sich ein Handtuch, ging in den Hof, um sich am Laufbrunnen zu waschen und zog sich frische Kleider an. Die anderen Delegationsmitglieder hatten offenbar ganz ähnliche Wünsche und so trafen sie sich am späteren Abend im Hof wieder, um gemeinsam nach einer Taverne zu suchen, in der sie noch etwas zu essen bekämen.
Artemidoros schien sich in diesem Teil von Rom bestens auszukennen und führte sie in eine kleine Schenke oberhalb ihrer Herberge, von deren Terrasse man einen herrlichen Ausblick auf die Stadtmauern und den Tiberhafen hatte. Sie bestellten Wein und Rindfleisch am Spieß, dazu ausreichend Brot und frischen Salat und schlugen sich genüsslich den Bauch voll.
»Ihr habt allesamt gut durchgehalten«, lobte sie Attalos. »Ich habe daher beschlossen, euch erst einmal zwei Tage Ruhe zu gönnen, bevor wir uns wieder zusammensetzen, um über die Taktik unseres Anhörungstermins zu beraten.«
»Sehr gut«, freute sich Xenophon und klopfte auf den Tisch.
»Tagsüber könnt ihr euch so frei bewegen, wie es euch gefällt. Nach Sonnenuntergang allerdings solltet ihr nicht mehr allein auf den Straßen sein. Wenn ihr meint noch in irgendeine Schenke gehen zu müssen, dann macht das. Aber ich bitte euch, geht immer zu zweit oder besser noch zu mehreren. Die Straßen Roms sind nicht so sicher wie bei uns zuhause und ich möchte keinen von euch verlieren.«
»Ist gut«, nickte Konon und warf seinen vier Soldaten einen warnenden Blick zu.
»Die Waffen«, wandte sich Attalos an seine Eskorte, »dürft ihr innerhalb der Stadt nicht tragen. Und ich bitte euch inständig dieses Gebot nicht zu brechen, da es unsere gesamte Mission in Gefahr bringen würde.«
»Und wann werden wir unseren Antrag einreichen?« erkundigte sich Ariston.
»Gleich morgen früh«, erwiderte Attalos und stippte sein Brot in die Salattunke. »Artemidoros und ich werden zum Forum Romanum gehen und dort im Comitium den Antrag abgeben. Komm doch einfach mit!«
»Das hätte ich dich als nächstes gefragt.«
»Darf ich auch mitkommen?« bat Krates.
»Na klar«, lachte Attalos. »Komm mit und bewundere die größte Agora der Welt.«
Am nächsten Morgen erwachte Krates durch die fünfstimmige Melodie der Fanfaren, die irgendwo ganz in der Nähe bliesen und etwas Großes ankündigten. Das nachfolgende Getöse applaudierender und schreiender Menschen riss ihn aus dem Bett und er stürzte zum Fenster, um die Prozession zu bewundern, die er unter seinem Zimmer wähnte; doch die Straße war leer. Er brauchte eine Weile, bis er verstand, dass die Fanfaren und der immer wieder auftosende Beifall von dem Platz hinter der hohen Mauer herüber schallte, von
der ihm Artemidoros gestern Abend erklärt hatte, dass sie zum Circus Maximus gehöre, was immer sich hinter diesem Namen auch verbergen mochte. Der zuweilen aufbrausende und dann wieder bis zur Totenstille abebbende Beifall machte ihn neugierig. Er zog sich an, frisierte sich die Haare und eilte die Treppen hinunter. Im begrünten Innenhof traf er auf Attalos und Artemidoros, die ihn zu sich an den Frühstückstisch winkten.
»Was ist das für ein Lärm?« erkundigte sich Krates.
»Gladiatorenkämpfe«, erwiderte Artemidoros verächtlich.
»Und was für eine Art Wettkampf ist das?«
»Ein Spiel mit dem Tod«, erklärte ihm Attalos ernst. »Das Spiel wird von mindestens zwei Männern geführt, die gegenseitig mit ihren Waffen aufeinander eindreschen, bis einer dem anderen unterliegt.«
»Und dann?«
»Dann ist er tot.«
»Aber er könnte doch auch aufgeben. Wenn man jemandem unterlegen ist, erkennt man das doch in der Regel vorher.«
»Stimmt. Aber das ist nicht der Sinn der Sache.«
»Wie? Du meinst, der Tod des Schwächeren gehört zum Spiel dazu?«
»Du sagst es. Für unsere Begriffe mag dieses Spiel grausam und menschenverachtend sein. Aber die Römer sind ein kriegerisches Volk und ihnen gefällt es.«
Krates schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben.«
»Dann sieh doch nach«, grinste Attalos.
»Doch«, nickte Artemidoros bekräftigend und blickte ihm dabei fest in die Augen, »geh rüber, kauf dir eine Eintrittskarte und schau es dir an. Ich denke, man muss das mal gesehen haben, um sich ein Bild von dieser Stadt und ihren Bewohnern zu machen.«
Attalos griff in seinen Mantel und schob ihm fünf Denare über den Tisch.
»Hier«, sagte er. »Davon kommst du rein und kannst dir obendrein noch etwas zu essen kaufen.«
Krates wusste noch immer nicht, was er davon halten sollte. Einerseits war er fest davon überzeugt, dass sich die beiden einen Scherz mit ihm erlaubten, konnte er sich doch beim besten Willen nicht vorstellen, dass Menschen in eine Art Theater gingen, um zuzusehen, wie
sich andere Menschen gegenseitig umbringen. Auf der anderen Seite machte ihn die Entschlossenheit der beiden stutzig. Er nahm sich eines der Brote vom Frühstückstisch und ergriff die fünf Denare, warf ihnen noch einen letzten Blick zu und verließ die Herberge. Er wollte schon einen der Passanten nach dem Weg zum Haupteingang fragen, als ihm einfiel, dass er ja gar kein römisch sprach. Also folgte er einfach der hohen Mauer stadteinwärts und traf schließlich ganz von allein auf einen Nebeneingang, vor dem ein kleines Kassenhäuschen stand.
Krates stellte sich in die Warteschlange und musterte die Leute vor ihm. Der Kleidung nach waren hier alle Bevölkerungsschichten vertreten und auch die Art und Weise, wie sie sich ausdrückten, war offenbar sehr unterschiedlich. Da gab es laut diskutierende, prahlende und vulgär klingende Männer und andere, die sich in einem eher ruhigen und gepflegten Tonfall unterhielten. Vor ihm stand ein farbiger Mann, der offensichtlich kein römisch sprach und dem Kassierer daher nur mit nach oben gestrecktem Daumen andeutete, dass er für eine Person Eintritt wünsche. Der Kassierer nahm das Geld und überreichte ihm die für den Einlass erforderliche Tonmünze. Als Krates an der Kasse stand, wiederholte er die Zeichensprache seines Vorgängers und erhielt ebenfalls Eintritt.
Er folgte dem Strom der Zuschauer und fand sich schließlich nach mehreren Treppenhäusern auf einem der mittleren Ränge wieder. Unterwegs hatte er sich zwei Äpfel und eine Tüte gerösteter Kastanien gekauft und ließ sich nun neben einem grobschlächtigen Bauern nieder. Fasziniert schaute er auf die riesige Fläche der länglichen Arena und die unzähligen Zuschauer, die in den Rängen über dem mit Sand gefüllten Kampfplatz saßen. In der Arena musste sich erst kürzlich ein Unfall ereignet haben, denn ein paar Sklaven kamen mit Bahren angelaufen und sammelten die blutigen Überreste zweier Männer ein. Wer weiß, dachte sich Krates, vielleicht sind sie bei einem Wagenrennen verunglückt.
Dann bliesen die Fanfaren und Krates biss gespannt in seinen Apfel. Aus irgendeinem Tor unter seinem Rang sprintete eine Gruppe von zehn rotgewandeten Soldaten und postierte sich in der Mitte der Arena. Als die Fanfaren erneut ansetzten, liefen aus einem anderen Tor zehn weitere Soldaten in grünen Uniformen. Doch anstatt sich neben die bereits vorhandenen zu stellen, verfielen sie in ein wildes Kampfgebrüll und rannten auf die Gruppe der roten Soldaten zu. Entsetzt sah Krates, wie sie plötzlich aufeinander einschlugen und schaute sich irritiert um, ob denn niemand dazwischen fahren würde, um die beiden Gruppen auseinander zu treiben. Aber es kam niemand. Die Zuschauer brüllten vor Begeisterung und skandierten irgendwelche Schlachtrufe, die er nicht verstand. Dann sah er, wie einer der Soldaten auf die Knie fiel und von einem anderen geköpft wurde. Blut schoss aus dem Torso und es brauchte eine kleine Weile, bis der abgetrennte Kopf mit dem Helm auf den Boden fiel. Krates glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als er das Publikum johlen und klatschen hörte. Ging es denn hier wirklich nur um das gegenseitige Abschlachten dieser Männer?
Obwohl sich die Kampfszenen mindestens zwei Stadien von ihm entfernt abspielten, war die Akustik dieses Gebäudes doch so gut, dass er die knackenden Geräusche der sich in die Leiber bohrenden und Knochen zerschneidenden Klingen hören konnte als wäre er direkt daneben. Als die Fanfaren schließlich zum dritten Mal bliesen und die Soldaten mit ihrem Morden aufhörten, waren von den anfangs zwanzig noch ganze drei auf den Beinen. Keuchend und stöhnend kehrten sie zu den Pforten zurück, aus denen sie gekommen waren und ließen die Leichen der Getöteten einfach in der Arena liegen.
Krates merkte, wie sich ihm langsam, aber sicher der Magen umdrehte. Eilig hastete er zum Treppenhaus, entschuldigte sich etliche Male bei irgendwelchen Leuten, denen er auf die Füße getreten war und hastete, so schnell er konnte, die Treppen in Richtung Ausgang hinunter. Draußen angekommen, rannte er auf die Straße und von dort weiter zu seiner Herberge. Die Bewegung tat ihm gut, aber sein Magen protestierte noch immer. Als er schließlich den Impuls nicht mehr abwehren konnte, lehnte er sich mit beiden Händen gegen die Mauer des Circus Maximus und erbrach seinen ganzen Mageninhalt. Tränen des Zorns rannen ihm über die Wangen und die Gedanken in seinem Kopf schienen sich zu überschlagen. Unter was für einer Sorte von Menschen befand er sich eigentlich?
»Sieh da, sieh da«, hörte er Artemidoros’ vertraute Stimme hinter sich dröh
nen. »Die Spiele scheinen dir offenbar nicht gefallen zu haben.«
Krates räusperte sich stark, holte tief aus und spuckte mit aller Verachtung gegen die Mauer. Dann warf er Artemidoros und Attalos einen düsteren Blick zu. »Ich habe es ja selbst so gewollt.«
»Wie schön«, lächelte ihm Attalos zu, »dass du nun um eine Erkenntnis reicher bist.«
Krates verstand die Doppeldeutigkeit seiner Bemerkung und fühlte sich schon um einiges wohler. »Ihr seid auf dem Weg zum Forum Romanum?«
»Das sind wir. Und wenn es dein Befinden zulässt, dann komm doch einfach mit. Das bringt dich wenigstens auf andere Gedanken.«
Krates schloss sich ihnen dankbar an. Unterwegs kaufte er sich von dem verbliebenen Kleingeld einen neuen Apfel und konzentrierte sich wieder auf die Architektur. »Diese vierstöckigen Häuser sind wirklich beeindruckend.«
»Wenn man bedenkt, dass sie nur aus Ziegeln errichtet und vom Erdgeschoss bis unters Dach bewohnt sind, allemal.«
Sie folgten der Straße um den flachen Hügel, von dem Artemidoros berichtete, er sei einer der sieben Hügel Roms und trage den Namen Palatinus und kamen in ein gehobenes Stadtviertel.
»Wie heißt dieser Stadtteil?« fragte Krates, während er einer Sänfte auswich.
»Velabrum«, antwortete ihm Artemidoros lachend und zog dabei die mittlere Silbe künstlich in die Länge, so dass es sich anhörte, als würde er eine besondere Delikatesse anpreisen. »Im Velabrum wohnen nur die wichtigen Leute.«
»Und diejenigen«, grinste Attalos, »die sich dafür halten.«
»Der Hügel dort hinten ist übrigens das Kapitol«, erklärte Artemidoros. »Sitz des Jupiter und der Glücksgötter.«
»Und der Hügel rechts daneben?«
»Heißt Arx.«
Je näher sie dem Forum Romanum kamen, desto dichter wurde der Verkehr und das Geschrei der Fuhrleute immer lauter. Schließlich standen sie auf einem riesigen Platz, der von Tempeln und Säulenhallen gesäumt und von unzähligen Statuen und Standbildern übersät war.
»So, Krates«, sagte Artemidoros und breitete theatralisch seine Arme aus. »Jetzt sage mir: Wie gefällt dir das?«
Krates starrte wie gebannt auf die farbenfrohe Architektur der Hallen und Heiligtümer, die in sich so leicht wirk
ten, als hätten sie von der Schwerfälligkeit der Tempel in Paestum oder Metapont noch nie zuvor gehört.
Sie überquerten den Platz und begaben sich direkt zu einem großen, runden Gebäude auf der gegenüber liegenden Seite, vor dem eine Gruppe weiß gewandeter Männer lebhaft miteinander diskutierte. Artemidoros sprach mit ihnen und wurde ans Senaculum verwiesen, ein Gebäude am Rande des Forums, in dem er mit Attalos verschwand. Krates wartete draußen, bis die beiden wenige Momente später wieder herauskamen.
»Das wäre erledigt«, hörte er Attalos sagen. »Vier Tage, haben sie gesagt. Wenn das wirklich so schnell geht, übertrifft es doch alle meine Erwartungen. Aber das ändert auch unsere Pläne. Ich würde daher vorschlagen, dass wir uns schon übermorgen früh zusammensetzen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.«
Während Attalos und Artemidoros zurück zur Herberge wollten, um sich auszuruhen und im Schatten des geschützten Hofes zu entspannen, zog es Krates vor noch ein wenig in der Stadt zu bleiben. Attalos deutete zum Abschied noch einmal mit dem Kopf auf die Sonne, um Krates an ihre Abmachung zu erinnern und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Krates lächelte zurück und ließ sich auf dem Forum treiben. Wenn sie in Rom eine Akademie oder eine ähnliche Einrichtung hatten, so würde er sie gewiss hier finden. Doch so sehr er in den Basiliken und einfachen Hallen auch suchte, eine Philosophenschule wie er sie erwartete, konnte er nicht finden. Und doch, sagte er sich, muss es eine geben! Es konnte nicht sein, dass eine so bedeutende Stadt von der Größe Roms keine Universität besaß.
Attalos hatte ihm zum Abschied ein kleines Säckchen mit römischem Geld gegeben und so setzte er sich gegen Mittag in eine der Tavernen am Forum, um seinen Hunger mit einer Hühnerkeule und einem großen Becher Wasser zu stillen.
»Tu es vir Romanus?« fragte ihn ein junger Mann.
Krates verstand nicht und zuckte verlegen mit den Schultern.
»Vel homo Graecus?«
Jetzt nickte er freudig und zeigte auf sich. »Gräkos.«
»Willkommen in Rom«, sagte der Mann in bestem Griechisch und strahlte ihn an.
»Mein Name ist Scipio. Scipio Aemilianus Africanus, um genau zu sein, aber es reicht vollkommen, wenn du mich Scipio nennst.«
»Ich heiße Krates«, erwiderte er und reichte ihm die Hand.
»Wo kommst du her, Krates?«
»Ich stamme ursprünglich aus Kilikien. Aber ich wohne seit einiger Zeit in Pergamon und habe eine Gesandtschaft unseres Königs nach Rom begleitet.«
Scipio nickte anerkennend und betrachtete ihn mit neugierigen Blicken. Dann überlegte er, als suche er nach der richtigen Formulierung und entschuldigte sich. »Es ist schon etwas länger her, seit ich mich das letzte Mal auf Griechisch unterhalten habe. Aber ich denke, du verstehst mich.«
»Dein Griechisch ist perfekt«, freute sich Krates. »Bist du ein Römer?«
»Ein gebürtiger Römer«, antwortete Scipio stolz. »Mein Vater war Römer, sein Vater und Großvater sind hier geboren und diese Reihe ließe sich noch bis in die Gründungszeit unserer Stadt fortsetzen.«
»Na«, lachte Krates, »dann kannst du mir sicher helfen. Ich bin nämlich zum ersten Mal in Rom und habe hier in den letzten Stunden vergeblich versucht, eine Akademie oder Stoa zu finden, in der Philosophen ausgebildet werden.«
Scipio begann zu lachen, aber es war ein bitteres Lachen, das Krates nicht auf sich beziehen konnte. »So etwas Gescheites haben wir hier nicht. Die einzigen Schulen, in denen man junge Leute zu dem heranzieht, was uns Römern lebenswichtig erscheint, heißen Kasernen.«
Krates blickte ihn schweigend an, denn er konnte nicht erkennen, ob dem Mann seine Einschätzung gefiel. Scipio schien seine Gedanken zu erraten. »Es ist leider so, Krates. Die meisten meiner Landsleute halten die Kunst der Sprache und des geistigen Argumentierens für eine Charakterschwäche. Sie haben es ja auch nie anders gelernt.«
»Wie schade«, kommentierte Krates.
»Ja, das ist es«, bestätigte ihm Scipio. »Nicht auszudenken, wie viele Konflikte sich friedlich lösen ließen, wenn man nur der Sprache mächtig wäre. Das versuche ich meinen Landsleuten schon seit Jahren zu predigen, aber irgendwie scheine ich dabei nie den richtigen Ton zu treffen.«
»Dann denkst du in diesem Punkt offenbar anders?«
»Aber natürlich«, entrüstete sich Scipio. »Warum sind dir denn die Akademien so wichtig? Bist du etwa ein Philosoph?«
»Das bin ich«, erwiderte Krates stolz. »Ein Philosoph, Redner und Leiter der Bibliothek von Pergamon.«
»Was du nicht sagst«, rief Scipio begeistert und überlegte wieder, wie er den folgenden Satz formulieren sollte. »Hör zu, ich habe gleich einen wichtigen Termin. Aber ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen. Was hältst du davon, wenn du uns morgen Abend besuchst? Ich schreibe dir hier die Adresse auf. Dann würde ich dir unsere Bibliothek zeigen, wir könnten etwas essen und anschließend kannst du uns von deiner Heimat erzählen, wenn du magst.«
»Diese Einladung werde ich gerne annehmen.«
Krates nahm die Holztafel mit der eingeritzten Adresse entgegen und versuchte den Straßennamen zu entziffern.
»Es ist gleich hier im Velabrum«, half ihm Scipio. »Du wirst es schnell finden. Sagen wir kurz vor Sonnenuntergang, dann musst du nicht im Dunkeln durch die Straßen und wir haben noch genügend Zeit für die Bibliothek.«
»Wunderbar«, freute sich Krates.
»Also dann. Ich muss jetzt ins Comitium. Es war schön, dich kennenzulernen.«
Krates erwiderte den kräftigen Handschlag. »Bist du einer der Ratsherren von Rom?«
Scipio lachte. »Nein, ein Senator bin ich nicht. Aber die meisten meiner Freunde sitzen dort. Warum?«
»Ach, nur so«, log Krates. »Mein Vater war auch einer.«
»Dann weißt du ja, wie mühsam dieses Leben ist. Mach’s gut.«
Scipio winkte ihm noch einmal zu und verließ eilig die Taverne. Krates blickte dem Mann nach und war beeindruckt. Dieser Scipio mochte vielleicht zehn Jahre jünger sein und machte einen sehr gebildeten und geistreichen Eindruck. Gut gelaunt, denn er freute sich noch immer über die Einladung, winkte er dem Wirt für die Rechnung. Doch er verstand weder die Sprache noch die Zahlen, die man ihm aufschrieb. Schließlich zählte ihm der Wirt die Summe mit den Fingern ab, was in der Schenke für ziemliches Gelächter sorgte und Krates peinlich berührte. Beschämt verließ er die Taverne und nahm sich fest vor Artemidoros wenigstens nach den römischen Zahlen zu fragen, damit ihm so etwas nicht noch einmal passierte.
In der Herberge angekommen, fand er Ariston und Xenophon im Hof über ein Brettspiel gebeugt. Stratios schlief angeblich in seinem Zimmer, während sich Artemidoros und die Wachmänner irgendwo in der Stadt verlustierten.
»Na, Krates?« begrüßte ihn Ariston von seinem Spielbrett aus. »Du siehst ja so gut gelaunt aus. Hast du deinen Schrecken von heute Morgen gut verdauen können?«
Krates erwiderte den Gruß und dachte an seinen Circusbesuch, den er schon fast wieder vergessen hatte. »Das ist ein anderes Thema«, sagte er ernst. »Aber ich habe in der Stadt einen jungen Römer kennengelernt, über dessen Bekanntschaft ich mich sehr freue. Ein überaus gebildeter und belesener Mann, der mich für morgen Abend zum Essen eingeladen hat.«
Sie beäugten ihn misstrauisch. »Und wohin geht die Reise?«
»Ins Velabrum«, trällerte Krates vergnügt.
Ariston schnalzte mit der Zunge. »Gute Adresse.«
»Aber es kommt noch besser!« prahlte Krates.
»Na, nun mach’s mal nicht so spannend«, dröhnte Xenophon.
»Der Mann heißt Scipio Aemilianus und verfügt über gute Kontakte zum römischen Senat.«
Krates konnte regelrecht sehen, wie es in Aristons Kopf zu arbeiten begann und musste herzlich lachen.
»He«, rief Xenophon, »du bist am Zug.«
»Einen Moment noch«, sagte Ariston und warf Krates einen ernsten Blick zu. »Woher willst du das wissen?«
»Weil er mir gesagt hat, dass die meisten seiner Freunde Senatoren des Comitiums wären. Und da er mich zu sich eingeladen hat, könnten wir die Chance vielleicht nutzen. Allerdings würde ich dich dann bitten, mir ein paar Ratschläge zu geben, was ich erzählen darf und was lieber nicht.«
Die beiden Pergamener wechselten einen amüsierten Blick und fingen gleichzeitig an zu lachen.
»Der Junge erstaunt mich immer wieder!« polterte Xenophon.
»Morgen Abend also«, nickte Ariston und bedachte Krates mit einem stolzen Blick. »Na, dann haben wir ja noch etwas Zeit. Ich muss auch erst mal dieses Spiel hier gewinnen.«
Krates nickte den Männern zu und ging auf sein Zimmer, wo er sich aufs Bett legte und über ihre bisherige Reise nachdachte. Als er schließlich von draußen das Gejohle und die Fanfaren hörte, erinnerte er sich an seinen Morgen, den er auf der anderen Seite der Mauer zugebracht hatte. Wütend stand er auf und knallte die Fensterläden zu. Dadurch war es zwar in seinem Zimmer dunkel, aber das furchterregende Getöse aus dem Circus Maximus auch wesentlich leiser. Die Sache mit den Gladiatorenkämpfen wollte ihm nicht in den Kopf. Wie er es auch drehte und wendete, er verstand es nicht. Weder die Seite der Zuschauer noch die der Kämpfenden. Gegen Abend holte ihn Ariston zum Abendessen ab, das sie diesmal im Hof ihrer Herberge zu sich nahmen.
»Wo ist eigentlich Attalos?« erkundigte sich Krates, während das Essen aufgetischt wurde.
Ariston sah ihn verblüfft an. »Hast du das denn nicht mitbekommen?«
»Was hätte ich mitbekommen sollen?«
»Er ist doch fort.«
»Gegen Mittag«, erläuterte ihm Stratios, »kam hier ein Senator namens Sempronius Gracchus vorbei. Ein alter Mann, den Attalos wohl von früher kannte und der die Auffassung vertrat, dass es sich für ein Mitglied der pergamenischen Königsfamilie nicht zieme, in einer so heruntergekommenen Herberge zu hausen. Jedenfalls wäre es ihm und Rom eine Ehre, wenn er Attalos bei sich aufnehmen dürfe. Und so sind sie dann zusammen wieder abgezogen.«
»Naja«, versuchte sich Krates zu sammeln. »Wie schön für ihn. Doch am Termin unserer Anhörung hat sich dadurch nichts verändert, oder?«
»Nein«, erwiderte Ariston. »Und jetzt lasst uns endlich essen, sonst wird der Braten kalt.«