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Kapitel 14

Die lautstarke Geräuschkulisse der benachbarten Hauptstraße ließ sie in dem Bewusstsein erwachen, wirklich in der Großstadt angekommen zu sein. Nach dem Frühstück zog sich Krates ein frisches Hemd an und holte aus Plutos Satteltaschen den schönsten Mantel, den er dabeihatte. Dann gab er Hippias ein Zeichen und verließ mit ihm gemeinsam die Karawanserei. Auf der Hauptstraße schlug ihnen rege Betriebsamkeit entgegen: Unzählige Fuhrwerke mit Holzbrettern und Steinen rollten in die Stadt, dazwischen die Wagen der Händler, die auf den Markt wollten und sich lauthals über den stockenden Verkehr beschwerten. Arbeiter und Soldaten, streunende Hunde, Kinder und Bauern drängten sich durch die Straßen und Krates kam sich vor wie an einem der Festtage in Tarsos. Ein großer Teil des Verkehrs strebte der Baustelle zu, die sich gegenüber der Karawanserei befand und von der ihnen Klearchos am Vorabend erzählt hatte, dass hier die Untere Kaserne für die Stadtwachen entstehe sowie die Offiziers-Unterkünfte für die privilegierten Generäle des Königs. Hinter dem Marktplatz entspannte sich der Verkehr ein wenig und auch die Besiedlung wich dem freien Feld des nur von wenigen Bäumen und Büschen bewachsenen Abhangs.
Um den Baustellen auszuweichen, folgten sie einer der steilen Treppengassen, die sie durch ein dicht besiedeltes Viertel bis zu einem kleinen Platz hinaufführte, der von starken Terrassenmauern umgeben war. Vom Treppensteigen erschöpft, lehnten sie sich an die Brüstung der Hangmauer und schauten irritiert in die Landschaft. Direkt unter ihnen lagen die Hallen des Marktplatzes, dahinter die Stadtmauern mit dem Eumenischen Tor und der Karawanserei und von überall her drang ihnen das Klopfen und Hämmern der Arbeiter entgegen.
»Meine Güte«, staunte Krates. »Hast du jemals so viele Baustellen auf einen Haufen gesehen?«
»Nein«, antwortete Hippias kopfschüttelnd. »Aber wenn es sich die Pergamener leisten können, so viel zu bauen, muss es ihnen doch ziemlich gut gehen, nicht wahr?«
Als sie sich umwandten, erkannten sie, dass hinter ihnen eine noch viel größere Baustelle lag, deren Ausmaße alles übertraf, was Krates je gesehen hatte.
»Beim Apollon!« wandte er sich an einen der Arbeiter, der ihnen von der Terrasse entgegenkam. »Was ist das denn?«
»Das neue Gymnasion«, erwiderte der Mann gelassen.
»Ein Gymnasion?« fragte Hippias beinahe ehrfürchtig und betrachtete staunend die Baustelle, die sich über drei riesige Terrassen erstreckte. »Ihr habt hier so riesengroße Gymnasien?«
Der Fremde zuckte nur mit den Schultern und ging zurück zu seiner Arbeit. Auf ihrem weiteren Weg passierten sie eine dritte Baustelle, von der ihnen ein anderer Arbeiter erzählte, dies werde das neue Vereinshaus der Techniten. Oberhalb davon trafen sie wieder auf die gepflasterte Hauptstraße, die bis zur Oberstadt von Häusern gesäumt war. Sie folgten dem dichten Verkehr, bis sie auf den oberen Markt kamen, der von der Straße mittig durchquert wurde. Von hier aus konnten sie die Mauern der Oberburg bereits sehen.
»Also, diese Stadt ist wirklich beeindruckend«, schwärmte Hippias.
»Schön, dass es dir auch so geht. Ich meine, im Vergleich zu Mallos ist ja schon Tarsos eine Großstadt. Aber das hier übertrifft doch wirklich alles.«
Hinter dem Markt, auf dem das bunte Treiben schon längst in vollem Gange war, lockerte sich der Verkehr wieder zunehmend auf. Ein lautes Klopfen und Hämmern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine weitere Baustelle, die links von ihrem Weg lag und nur durch eine große Rampe erreichbar war. Sie wagten einen Blick auf die Arbeiten und glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihnen lag ohne Zweifel ein Altar und daran war an und für sich noch nichts Ungewöhnliches. Doch die Ausmaße dieses Altarbaues waren so gigantisch, dass Krates glatt vergaß, wo er sich befand.
»Aus dem Weg!« brüllte jemand von hinten und sie sprangen zur Seite, um einem Ochsenkarren auszuweichen, der eine riesige Marmorplatte transportierte.
Von hier an trennten sich ihre Wege. Während Hippias zum Oberen Markt zurückschlenderte, folgte Krates der Hauptstraße, die sich in einem spitzen Winkel zum Akropolistor hinaufschlängelte.
»Was willst du hier?« rief einer der Wachsoldaten am oberen Burgtor und stellte sich Krates in den Weg.
»Ich suche einen Mann namens Ariston. Er ist Gesandter eures königlichen Rates und ich habe etwas mit ihm zu besprechen.«
»Wie ist dein Name?«
»Ich bin Krates aus Mallos, der Sohn des Timokrates.«
»He, Phaidros!« rief der Soldat. »Hier ist ein junger Mann, der sich Krates aus Mallos nennt. Gib Ariston Bescheid, dass ihn der Sohn des Timokrates sprechen will.« Dann wandte er sich wieder an Krates: »Und du bleibst hier.«
Die kraftvolle Autorität des Wachmannes hatte eine überzeugende Wirkung und so wartete Krates eingeschüchtert vor dem Burgtor.
»Ja, ist denn das die Möglichkeit?« hörte er plötzlich Aristons Stimme. »Krates, mein Lieber, da bist du ja endlich.«
Sie begrüßten sich mit einem herzlichen Handschlag. Dann legte ihm Ariston seine Hand auf die Schulter und schob ihn an den Wachen vorbei. »Wie gut, dass dir nichts passiert ist, Junge! Ich habe heute Morgen von Klearchos gehört, dass ihr unterwegs überfallen wurdet.«
Krates schluckte, als er an den schmerzlichen Verlust seiner Treiber dachte, und nickte nur. Ariston führte ihn über einen Vorplatz in den von Hallen umgebenenen Hof des Athenaheiligtums. Für einen kurzen Moment hielt Krates inne, weil er etwas anderes sah als er erwartet hatte. Denn anstatt des weiten Hofes, in dem er nun stand, kam es ihm viel mehr so vor, als befände er sich in einem Wald aus Statuen und kleinen Altären. Dicht an dicht standen die Weihegeschenke und nahmen dem Besucher teilweise sogar die Sicht auf den alten Athenatempel am Rande des Platzes. Die Gebälke der Säulenhallen waren reich verziert und ebenso farbenfroh bemalt wie die meisten Statuen im Hof. Er musste schmunzeln, als er erkannte, dass sich zwischen den Säulen der Hallengebälke nicht eine, sondern zwei Triglyphen befanden. Philopatros hatte ihm einst erklärt, dass die zwei Gebälktriglyphen eine pergamenische Eigenart darstellten, die zwar nur ein Bruchteil, aber immerhin doch wesentliches Element des Kulturverständnisses waren, mit dem sich die Pergamener und ihre Verbündeten von der Außenwelt unterschieden.
»Wo kommt eigentlich das ganze Geld her? Ich meine, all diese Baustellen verursachen doch Unsummen an Kosten.«
Ariston lachte heiser. »Das ist wohl wahr! Aber glaub mir, das ist schon viel besser geworden. Es gab mal eine Zeit, da war die ganze Stadt eine einzige Baustelle und wir haben uns fast täglich gefragt, wovon Eumenes das nur bezahlen will. Aber der Staatsschatz unserer Könige ist nicht nur unermesslich groß, sondern wird auch von kluger Hand gemehrt. Und ein guter Herrscher muss nicht die Peitsche schwingen und arme Bauern erpressen, um solche Dinge bezahlen zu können.«
»Ja«, nickte Krates, »davon hat mir schon Philopatros damals erzählt. Und ich werde ehrlich gesagt immer neugieriger diesen Herrscher endlich kennenzulernen.«
»Dann lass uns gehen.«
»Wie bitte?«
Ariston nickte ihm aufmunternd zu. »Nun komm schon! Er muss dich doch sowieso kennen lernen.«
Krates bekam auf einmal heftiges Herzklopfen. Was sollte er nur sagen? Bisher hatte er sich immer vorgestellt, dass man ihm genügend Zeit ließe, um sich auf das Gespräch mit dem König in Ruhe vorzubereiten. Doch jetzt blieben ihm nur noch wenige Augenblicke.
»Wie begrüße ich denn den König? Ich meine, muss ich mich vor ihm verbeugen?«
Ariston schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Nein, verbeugen wäre zu profan. Du musst dich auf den Boden werfen.«
»Auf den Boden?« widerholte Krates ungläubig.
»Ja genau. Aber nicht so vorsichtig, wie es die Tölpel aus den Provinzen machen, sondern mit Anlauf und Überzeugung …« Er hätte dem gerne noch etwas hinzugefügt, zumal ihm Krates diesen Unsinn vorbehaltlos zu glauben schien. Doch als er jetzt sah, wie der junge Philosoph blass wurde, konnte er nicht anders, als laut loszulachen. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen und sie sich wieder auf dem Vorplatz befanden. Dann hielt er auf eines der gegenüberliegenden Gebäude zu und klopfte kräftig an das Haupttor.
»Na gut, Spaß beiseite. Eine ehrerbietige Begrüßung reicht voll und ganz. Und damit du wieder etwas ruhiger wirst, stelle ich dich jetzt erst einmal meinem Vorgesetzten vor.«
Krates nickte dankbar. Ein Diener öffnete ihnen die Pforte und sie betraten ein Haus, das ungefähr die gleiche Größe hatte wie das des tarsianischen Ratsherren Kastor. Der Diener führte sie in einen Vorraum und bat sie zu warten, während er seinen Herrn holte. Im Gegensatz zu draußen war es in diesem Vorraum angenehm kühl. Der Fußboden wurde von einem farbenfrohen Mosaik geziert, dessen Würfelmuster so plastisch aussah, dass Krates zweimal hinsehen musste, um sich davon zu überzeugen, dass die Würfel nicht aus dem Boden herausstanden. Die Wände waren weiß getüncht und wiesen ein geschmackvolles Dekor aus farbigen Flächen und roten Girlanden auf. Vom zentralen Hof jenseits der Halle drang das Plätschern eines Springbrunnens und im Grün des Rasens zwitscherten ein paar Vögel.
»Ariston«, rief eine tiefe, sympathische Stimme aus der Halle. Ein stattlicher Mann gereiften Alters betrat den Raum und begrüßte ihn mit einem kräftigen Schulterklopfen. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte dir meinen Bekannten Krates aus Mallos vorstellen. Er ist Philosoph und ich lernte ihn bei meinem Auftrag in Tarsos kennen, wo er an der berühmten Akademie studiert und gelehrt hat.«
»Ach ja«, nickte der Mann und bemaß Krates mit einem prüfenden Blick. »Ich erinnere mich, dass du mir von ihm erzählt hast. Ist er derjenige, der die Aufgabe unseres lieben Dositheos übernehmen soll?«
»Ganz recht. Meinst du, dass es dem König gefallen könnte, ihn mit dieser Aufgabe zu betrauen?«
»Nun«, sagte der Mann und bedachte Krates mit einem kräftigen Händedruck. »Du machst auf mich einen ganz patenten Eindruck. Und wenn du in Tarsos studiert hast, kennst du dich ja mit Bibliotheken auch hinreichend aus. Bist du denn ein Akademiker?«
»Nein«, lächelte Krates. »Meine Lehrer in Tarsos wollten zwar einen solchen aus mir machen. Aber in meinem Herzen bin ich Stoiker geblieben, ganz so, wie es mich mein erster Lehrer in Mallos gelehrt hat.«
Der Mann lächelte ihn wohlwollend an. »Dann bist du sicherlich auch schon an der Stoa von Athen gewesen?«
Krates blickte beschämt zu Boden. »Ich fürchte, dieses Ziel liegt außerhalb meiner Möglichkeiten. Auch wenn ich einiges darum gäbe, den Geist des Zenon einmal aus der Nähe zu spüren.«
»Immerhin«, lobte ihn Aristons Vorgesetzter. »Wenn du etwas nicht weißt, dann weißt du, dass du es nicht weißt. Diese sokratische Ehrlichkeit ist mir auch wesentlich lieber als das wichtigtuerische Geschwätz der Sophisten. Von mir aus, Krates, kannst du die Bibliothek leiten.«
Krates schluckte und lächelte dankbar. »Wohnt denn der König auch hier?«
»Oh ja«, erwiderte der Mann verschmitzt. »Aber er befindet sich gerade in einer Besprechung.«
»Aha«, nickte Krates und verstand nicht, warum die beiden schon wieder lachten. »Dann bleibt mir ja noch ein wenig Zeit.«
»Du sagst es«, erwiderte der Ältere. »Ich schlage vor, dass du dir in der Zwischenzeit die Bibliothek zeigen lässt. Und wenn du dann alles gesehen hast und immer noch der Meinung bist, dass du diesen Posten übernehmen willst, kommt ihr einfach noch mal her. Dann lernst du den König kennen und sagst ihm, wie du dich entschieden hast.«
»Das hört sich gut an«, sagte Krates, den es ein wenig störte, den Namen von Aristons Vorgesetzten nicht richtig verstanden zu haben, sich aber auch nicht traute, noch einmal nachzufragen.
Sie verließen das Haus und kehrten zum Athenaheiligtum zurück. Ariston führte ihn durch das Treppenhaus eines Burgturms ins Obergeschoss der Säulenhallen, von dem aus sie den Haupteingang betraten. Die Bibliothek war angenehm kühl und auch wesentlich größer als Krates sie sich vorgestellt hatte. Dem Eingang gegenüber stand eine überlebensgroße Statue der Athena Parthenos, von der ihm Ariston erzählte, sie sei eine Kopie der berühmten Athenastatue, die der Bildhauer Pheidias für den Parthenon in Athen geschaffen hatte. Der Hauptraum mit der Statue war repräsentativ gestaltet mit farbigem Stuck an der Decke und reich gegliederten Wänden. Vom Hauptraum, dessen bis an die Decke gefüllte Schränke allein die Hälfte der Schriften der Tarsianischen Bibliothek einnahmen, gelangten sie in eine Raumflucht aus drei weiteren Sälen von geringfügig kleineren Ausmaßen.
»Bei Athena und Apollon«, schwärmte Krates, »diese Fülle ist ja unglaublich.«
»Und das ist nur das Obergeschoss«, erwiderte Ariston. »Komm mit, hier geht’s nach unten.«
Krates folgte ihm die Holzstiege in die untere Etage, die sich nach Westen hin zu einem kleinen Hof öffnete. Auch in diesen Räumen bestaunte er die Fülle der gesammelten Schriften. Ehrfüchtig stellte er sich vor eines der Regale und zog einen Papyrus mit dem Werk des Xenophon heraus. Direkt daneben lag eine Tragödie des Dichters Pandoros und die Kurzabhandlung eines Mannes namens Apollonides über erlesene Speisen der pisidischen Küche.
»Nach welchen Kriterien ist diese Bibliothek eigentlich sortiert?« fragte Krates leicht irritiert.
»Keine Ahnung«, erwiderte Ariston ehrlich. »Der einzige, der dir das erklären könnte, ist Dositheos, der ehemalige Lehrer unseres Königs und bisherige Leiter der Bibliothek. Aber der ist vor vier Monaten gestorben.«
Krates ahnte, was auf ihn zukommen würde, denn bei all seiner Liebe zur Unordnung, mit diesem chaotischen System der Schriftensortierung konnte und wollte er nicht leben.
»Meinst du, dass ich die Bibliothek neu sortieren darf?«
»Solange du nichts wegschmeißt, wofür der König viel Geld ausgegeben hat, darfst du hier alles.«
»Dann können wir unseren Durchgang auch beenden. Denn ich freue mich, wenn ich diese Aufgabe übernehmen darf.«
»Einen Moment noch«, wandte Ariston ein und führte ihn durch eine kleine Tür des Hofes. »Die Bibliothek ist das eine. Doch um ihren Sinn zu verstehen, musst du auch das andere sehen.«
»Und das wäre?«
»Das Museion«, strahlte Ariston und breitete seine Hände aus. Sie standen auf einem mittelgroßen, von einfachen Hallen umgebenen Platz hinter dem Athenaheiligtum, in dem sich Statuen und Portraits, Wandgemälde, Halbreliefs und wertvolle Schilde befanden.
»Meine Güte, was ist das denn?« entfuhr es Krates, der etwas derartiges noch nie gesehen hatte.
»Das sind die gesammelten Werke unserer Könige«, erklärte ihm Ariston stolz. »Manches stammt von ihren Feldzügen, doch das meiste wurde gekauft, von auswärtigen Gesandten als Geschenk überbracht oder von unseren eigenen Handwerkern kopiert.«
»Aber wozu? Und warum bewahrt ihr das alles hier auf?«
»Nun, zum einen, weil es schön ist, nicht wahr? Und zum anderen, um jedem, der etwas davon versteht, zu zeigen, dass wir es besitzen, weil wir Gefallen daran haben. Die Kunst wird hier über ihren kulturellen Charakter in die politische Ebene gehoben. Und mancher auswärtige Gesandte hat sich davon schon beeindrucken lassen. Was hältst du davon?«
Krates bestaunte die Kunstwerke und dachte an Agathon, der an diesem Ort seine wahre Freude gehabt hätte. »Ich müsste mir mehr Zeit nehmen, um all das hier zu würdigen. Und die werde ich ja irgendwann auch finden. Aber was haben diese Kunstwerke mit der Bibliothek zu tun?«
»Sind sie denn nicht in gewisser Hinsicht das Gleiche?«
»Wie kannst du so etwas behaupten?« entrüstete sich Krates. »Die Schriften der Bibliothek sind durch den Geist göttlich inspirierter Dichter und Philosophen entstanden, diese hübschen Bildwerke hier nur durch die Hände ihrer Meister.«
»Glaubst du das wirklich?« fragte Ariston spöttisch.
Krates lachte, weil er sich dabei ertappte, genauso konventionell zu denken wie sein Lehrer Myron, dessen anachronistisches Weltbild er immer verurteilt hatte. »Nein. Aber ich sehe doch einen gewissen Unterschied zwischen dem Sammeln von Schriften und dem Horten von Kunstwerken.«
»Da gibt es aber keinen«, lächelte Ariston und erklärte ihm, dass man genauso lang und inhaltlich tief über die Hintergründe eines politisch oder gesellschaftlich motivierten Kunstwerkes diskutieren könne wie über die Thesen einer philosophischen Abhandlung. Und dass dies letztlich auch der existentielle Grund für die Bibliothek sei: Nämlich eine kulturelle Machtdemonstration.
»Ist es schlimm«, fragte Krates zögerlich, »wenn ich meine Aufgabe nicht von diesem Standpunkt aus betrachte?«
»Ganz im Gegenteil«, bestätigte ihm Ariston. »Ich denke sogar, du kannst sie gar nicht so betrachten, zumindest nicht, wenn du deine Sache gut machen willst. Aber du solltest doch zumindest wissen, wie dein Auftraggeber darüber denkt.«
»Da sehe ich keinerlei Schwierigkeiten. Wann kann ich anfangen?«
»Das fragen wir den König. Komm, lass uns zurückgehen.«
Jetzt gilt’s, dachte sich Krates, als sie wieder im Vorraum warteten, während der Hausdiener nach dem König suchte. Verwundert schaute er auf, als wiederum nur Aristons Vorgesetzter hereinkam und sie begrüßte.
»Nun, Krates? Hast du unsere Bibliothek gesehen?«
»Das habe ich, und ich bin begeistert. Von der Bibliothek ebenso wie von eurem Museion. Das werde ich dem König sagen, wenn er uns empfängt und dann will ich so schnell wie möglich anfangen.«
Eumenes klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Dann erteile ich dir hiermit den königlichen Auftrag, dich um die Bibliothek zu kümmern.«
Es dauerte eine Weile, bis Krates verstand. Fassungslos und beschämt starrte er den König an, doch das herzliche Gelächter der beiden Männer ließ ihn seine Scham schnell vergessen.
»Wo habt ihr ihn untergebracht?« wandte sich Eumenes an seinen Gesandten, während er sie in den Hof seines Hauses führte und ihnen etwas zu trinken anbot.
»In der Karawanserei am unteren Stadttor.«
»In der Karawanserei? Meine Güte, warum nicht gleich bei den Schlachthöfen?«
»Meine Pferde stehen dort«, versuchte sich Krates erklärend einzumischen und fügte leise hinzu: »Zumindest die, die die Reise überstanden haben.«
Ariston erkannte den fragenden Blick des Königs und kam Krates mit einer Erklärung zuvor.
»Das tut mir leid«, sagte Eumenes, als Ariston mit seinem Bericht geendet hatte. »Hast du Maulesel oder Pferde?«
»Syrische Rappen«, erwiderte Krates stolz. »Es sind herrliche Tiere, von der meisterhaften Hand eines befreundeten Karawanenführers ausgesucht und selbst für das Tragen meiner kostbaren Seidentuche viel zu schade. Aber die Entscheidung über ihre weiteren Einsatzmöglichkeiten überlasse ich den hiesigen Käufern.«
»Wie viele hast du denn davon?«
»Nur noch neun.«
»Neun Syrer? Beim Zeus, die muss ich sehen. Ich werde dir morgen früh einen unserer Marktprüfer vorbeischicken. Der schaut sich die Tiere und ihre Fracht an und wenn du ihn überzeugen kannst, wird er dir einen fairen Preis machen. Aber in der Karawanserei solltest du nicht länger bleiben, Krates. Das ist zumindest nicht der Ort, den ich mir für den Leiter unserer Bibliothek vorstelle.«
»Was ist mit einem der Häuser in der Philetaireia?« schlug Ariston vor.
»Stimmt«, erwiderte Eumenes nickend. »Du könntest das Haus des Dositheos haben. Er hat es mir testamentarisch vermacht und es steht seit seinem Tode leer.«
»Das ist sehr großzügig von Euch«, bedankte sich Krates und zupfte nervös an seinem Gewand.
Der König lachte ihm wohlwollend zu. »Dann mache ich dir folgenden Vorschlag: Du arbeitest dich hier erstmal einen Monat lang ein und kannst so lange in dem Haus deines Vorgängers wohnen. Miete brauchst du keine zu zahlen, aber dafür zahle ich dir in diesem Monat auch kein Gehalt. In vier Wochen setzen wir uns noch einmal zusammen und du erzählst mir, wie du dir deine Zukunft vorstellst. Werden wir uns einig, schenke ich dir das Haus und du bekommst obendrein noch ein königliches Gehalt. Und wenn nicht, nun gut, dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen.«
»Ich werde mein Bestes geben«, versicherte Krates.
»Gut«, schloss Eumenes. »Dann beenden wir hiermit unser Gespräch. Ariston wird dir gleich noch das Haus zeigen und du triffst dich morgen mit unserem Marktprüfer. Wenn alles klappt, wird er dir ein entsprechendes Wertpapier des Athenaheiligtums ausstellen und dir die Schlüssel für dein Haus aushändigen. Über die Schlüssel für die Bibliothek und das Museion unterhälst du dich am besten mit unserem Oberpriester Brasides.«
Sie erhoben sich und bedankten sich für die Zeit, die der König mit ihnen verbracht hatte. Dann verließen sie sein Haus und strebten dem Burgtor zu.
Krates warf seinem Begleiter einen verschmitzten Blick zu. »Nimmst du deine Mitmenschen immer so gnadenlos auf den Arm?«
»Nein, nur die, die mir eine Gelegenheit dazu bieten. Aber es hat doch alles wunderbar geklappt, nicht wahr? Und ein wenig Spaß hat noch niemandem geschadet.«
Als sie das Burgtor passierten, nahm Ariston die Wachen beiseite und stellte ihnen Krates als den neuen Bibliotheksleiter vor, dem sie jederzeit freien Einlass zu gewähren hätten. Die Wächter nickten ihm freundlich zu und begaben sich wieder auf ihre Posten.
Die lautstarken Geräusche, die ihnen von der Hauptstraße und der Altarbaustelle entgegenschlugen, riefen Krates schlagartig ins Bewusstsein, wie ruhig es in der oberen Burg gewesen war. Hier jedenfalls befanden sie sich wieder mitten in der Großstadt. Sie folgten der Hauptstraße bis zur Rampe der Altarbaustelle und schritten in die Demetergasse, die in die Philetaireia führte, von der ihm Ariston erzählte, dass der Stadtteil seinen Namen nach dem ersten König von Pergamon trage. Nach nur wenigen Schritten bogen sie in die Telephosgasse, die wieder parallel zur Hauptstraße verlief. Ariston führte ihn bis vor das zweite Haus, vor dem er einen Schlüsselbund zog und die Tür zum Hof öffnete.
Krates staunte nicht schlecht, als er sein zukünftiges Haus von innen sah. Sie traten in eine kleine Vorhalle, von der links und rechts zwei Türen abgingen. Linker Hand, erklärte ihm Ariston, befände sich ein Raum mit Zugang zur Küche, den Dositheos früher als Speisesaal genutzt habe. Rechts liege der Pferdestall, was man an den Strohresten immer noch deutlich erkennen konnte. Krates warf einen Blick in den Stall und stellte fest, dass sich hier problemlos fünf Pferde unterbringen ließen.
Die Eingangshalle öffnete sich zu einem länglichen Hof. Feiner Staub lag in der Luft und funktelte in den Sonnenstrahlen, die das alte Pflaster des Hofes berührten und dabei die Einsamkeit der leeren Räume seltsam betonten. In der Mitte des Hofes lag eine tiefe Zisterne und von den Seitenwänden führten drei weitere Türen zur Küche und zwei kleinen Kammern. Auf der gegenüberliegenden Seite stand das Haupthaus mit einer kleinen Vorhalle, die sich ihrerseits genauso zum Hof hin öffnete. Hinter den Säulen des Haupthauses befand sich ein großer Hauptraum mit Feuerstelle, in dem man auch während der kalten Jahreszeit verweilen konnte. Ariston führte Krates über das Treppenhaus ins Obergeschoss und zeigte ihm die Galerie, von der aus man über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser auf die weite Ebene vor Pergamon, ja sogar bis zum Meer hin blicken konnte. Im Obergeschoss befanden sich schließlich zwei weitere Räume, die er als Schlaf- und Ankleidezimmer bezeichnete. Krates war überwältigt.
»Und dieses Haus will mir Eumenes schenken? Einfach so?«
»Wenn du deine Sache gut machst.«
»Das habe ich vor.«
»Na schön. Dann sieh zu, dass du deine Pferde bis morgen auf Hochglanz bringst. Wenn sie gesund sind und deine Seidentuche auch nur annähernd so gut aussehen, wie ich sie mir vorstelle, bin ich mir ziemlich sicher, dass Eumenes sie dir abkaufen wird. Alles weitere ergibt sich von selbst.«
Krates dankte ihm für seine Hilfe und verabschiedete sich. Gedankenverloren machte er sich auf den Weg zur Hauptstraße, die ihn in langen Serpentinen durch die allmählich zur Ruhe kommende Stadt nach unten führte. In der Karawanserei angekommen begegnete er dem fragenden Blick seiner Gefährten und nickte ihnen fröhlich zu.
»Und?« fragte Hippias neugierig, »wie ist es gelaufen?«
»Ich habe die Stelle bekommen. Zwar erst nur für einen Monat auf Probe, aber den werde ich mit Leichtigkeit bestehen. Und stellt euch vor! Als ich das erste Mal mit dem König sprach, wusste ich gar nicht, dass er es selbst war. Und ihr? Wie ist es euch ergangen?«
Hegesias sah ihn unverwandt an. »Was glaubst du, wie es uns ergangen ist? Wir haben gestern zwei unserer besten Freunde verloren. So ist es uns ergangen.«
Krates zuckte mit den Schultern. Was sollte er darauf schon erwidern. Aber der untergründige Vorwurf in Hegesias’ Tonfall machte ihn wütend.
»Was kann ich dafür? Ich habe die Galater nicht bestellt! Wir haben den Angriff überlebt, Apollon sei Dank! Was erwartest du von mir? Etwa, dass ich mich entschuldige?«
»Nein, natürlich nicht«, besänftigte ihn Leandros anstelle seines Gefährten. »Aber du musst verstehen, dass wir um unsere Kameraden trauern und uns allenfalls mit dir freuen können.« Nach einer kurzen Pause, in der sich Krates für sein Aufbrausen entschuldigt hatte, erzählte ihm Leandros von den Handelszügen, die von hier aus nach Ankyra zogen. »Wir werden uns also der nächsten Karawane anschließen, die von hier aus nach Osten marschiert. Und die wird voraussichtlich übermorgen eintreffen.«
»Das heißt, ihr müsst noch drei weitere Tage in Pergamon bleiben?«
»Ja, aber das macht uns nichts aus. Die Karawanserei hat ja alles, was man zum Leben braucht.«
Krates lächelte, als er seinen nächsten Gedanken aussprach: »Wäret ihr bereit, mir noch einen letzten Gefallen zu tun? Es ist nämlich so: Das Haus, das mir Eumenes zur Verfügung gestellt hat, ist ebenso groß wie leer. Ich werde also ein paar Möbel einkaufen müssen und allerlei sonstiges, was man zum Leben so braucht. Aber ich fürchte, dass Hippias und ich das allein nicht werden tragen können. Ich würde mich daher freuen, wenn ihr uns ein wenig zur Hand gehen könntet.«
»Abgemacht«, erwiderte Leandros, der sich über die Ablenkung freute, und stand auf, um sich mit Omikron um die Fütterung der Pferde zu kümmern.
Die anderen waren schon längst eingeschlafen, als Krates noch immer wach lag und an den vergangenen Tag zurückdachte. Er verspürte die vertraute Zuversicht, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Aber da war auch noch etwas anderes, das ihn berührte und voller Frieden einschlafen ließ: Nämlich tiefe Dankbarkeit.