Im Morgengrauen des nächsten Tages wachte Krates durch ein ihm unbekanntes Geräusch auf, das leise begonnen hatte und nun immer lauter wurde. Es hörte sich fast an, als würde jemand eine schwere Holztruhe über die Treppenstufen nach unten ziehen, nur: In seiner Unterkunft gab es keine Treppe. Irritiert setzte er sich auf und lauschte ins Zimmer, doch das Geräusch wurde leiser und leiser, bis es irgendwann verschwand. Eine ganze Weile saß er noch so da, ohne das Gehörte richtig einordnen zu können. Kopfschüttelnd legte er sich wieder hin, als der unheimliche Laut von neuem erklang. Ein rhythmisches Poltern, das irgendwo aus der Tiefe zu kommen schien und langsam zu einem donnernden Grollen anschwoll, lauter und lauter wurde, bis es sich mit einem gewaltigen Knall entlud, der das Haus bis in seine Grundfesten erschütterte.
Verängstigt sprang Krates aus dem Bett und sah seine Zimmertür auffliegen. Agathon stürmte ins Zimmer und zerrte ihn zum Fenster.
»Raus!« schrie er ihn an. »Schnell, spring aus dem Fenster!«
Krates zögerte, doch die Entschlossenheit seines Freundes, mit der er die Fensterläden aufstieß und ins Freie sprang, verhieß nichts Gutes. Krates stand schon auf der Fensterbank, als die Erde erneut bebte, ihn das Gleichgewicht verlieren und unsanft in den Schnee fallen ließ. Agathon half ihm auf die Beine und rannte mit ihm in die Mitte des Gartens. Noch immer bewegte sich der Untergrund ruckartig hin und her und ließ weite Teile der mächtigen Gartenmauern wie Sandwälle in sich zusammenfallen. Entsetzliche Schreie gellten durch die Morgenluft, von den Dächern des Museions prasselten die Dachziegel und auf der gegenüberliegenden Seite stürzte die Säulenhalle des Seminargebäudes ein. Doch so unerwartet und heftig das Erdbeben gewütet hatte, so schnell war es auch wieder vorbei.
Krates brauchte einige Zeit, bis er begriff, was passiert war. Zusammen mit Agathon und einigen anderen, die sich in den Schutz des Gartens geflüchtet hatten, stand er unter den Pinien und starrte fassungslos auf die riesige Staubwolke, die sich langsam über die Trümmer der zerstörten Gebäude legte. Die anhaltende Ruhe nach dem Beben wirkte fast gespenstisch. Ein lautes Krachen ließ sie zusammenfahren, als eines der Nachbarhäuser jenseits der Gartenmauern einstürzte. Krates fror und wollte zurück in sein Zimmer, doch Agathon hielt ihn zurück..
»Warte lieber noch«, bat er ihn. »Wer weiß, vielleicht ist es noch nicht vorbei.«
Doch die Erde blieb ruhig. Sie sahen Kallisthenes und Dionysios, die gerade aus dem Seminargebäude traten und liefen ihnen entgegen.
»Gibt es irgendetwas, was wir tun können?« rief Agathon.
Kallisthenes nickte ihnen erleichtert zu. »Wie schön, dass euch nichts passiert ist. Ja, ihr könnt uns helfen: Lauft zu den Unterkünften und stellt fest, ob alle wohlauf sind. Dann können Dionysios und ich schon einmal überprüfen, wie groß der entstandene Schaden ist.«
Wie sich zeigte, hatte das Erdbeben in Tarsos nur mittelschwere Schäden angerichtet: Ein paar Häuser waren eingestürzt, wobei zwölf Menschen ums Leben kamen. Die übrigen Schäden beschränkten sich auf zerstörte Dächer, umgekippte Bäume und defekte Straßenbeläge. Im Museion selbst waren es vor allem die älteren Gebäude, die den Naturgewalten nicht hatten Stand halten können. Nahezu jedes Dach musste ausgebessert werden und selbst die stärksten Mauern hatten Risse bekommen. Von den Lehrern und Schülern
dagegen wurde niemand verletzt oder vermisst, was nahezu an ein Wunder grenzte und Kallisthenes dazu animierte mit seinen Kollegen und Studenten ein gemeinsames Dankgebet an Athena zu sprechen.
Während der nächsten Tage war an Lernen nicht zu denken. Überall im Museion wurde gehämmert und gesägt. Die Aufräum- und Reparaturarbeiten hätten wesentlich schneller gehen können, wenn die Schüler mit angepackt hätten, doch die sozialen Regeln des Museions verboten es sich mit den Handwerkern gleichzustellen und deren Tätigkeit auszuüben. So waren die Veranstaltungen bis zur Beendigung der Arbeiten ausgesetzt und die Schüler sich selbst überlassen.
Krates wollte gerade mit Agathon und Pisdes in die Stadt gehen, als ein berittener Bote zum Museion kam und ihm einen Brief aus Mallos aushändigte. Der Kurier betonte, dass er es eilig habe, verabschiedete sich und ritt weiter. Krates ahnte das Unheil, denn wenn man ihm die Post aus Mallos statt wie bisher über den Kaufmann Gordianos mittels eines Boten schickte, musste der Brief sehr dringlich sein. Er bat seine Kameraden auf ihn zu warten und eilte in sein Zimmer.
Zitternd vor Aufregung entrollte er den Brief und erkannte die Grußworte seiner Schwester, doch er bemerkte auch sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Orthygias sonst so schöne Handschrift war diffus und krakelig, an einigen Stellen war die Tinte verwischt und schon die erste Zeile ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Fassungslos starrte er auf den Brief, in dem sie ihm verzweifelt von den verheerenden Zerstörungen in Mallos berichtete. Das Erdbeben habe sich in den frühen Morgenstunden ereignet und die Stadt so unerwartet getroffen, dass viele Bewohner in den Tod gerissen wurden. Mela und ihr sei nichts passiert und der Schaden am Haus wohl reparabel. Doch Timokrates, der an jenem Morgen schon früh aufgebrochen war, sei in der Nähe des Rathauses von einem herabfallenden Türsturz erschlagen worden. Und auch Myron habe diesen Tag nicht überlebt. Wegen der vielen Toten und der drohenden Seuchengefahr habe sie den Vater in aller Eile begraben müssen. Um so mehr bat sie ihn so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um ihr bei den Reparaturen und der Nachlassvewaltung zu helfen, mit der sie zur Zeit maßlos überfordert sei.
Krates blickte stumm auf die rußende Öllampe und spürte den Kloß in seinem Hals. Die Verzweiflung war wie ein wildes Tier, das sich aus seinem Innersten den Weg nach draußen bahnte. Er brüllte seinen Schmerz heraus und sank schluchzend vor dem Tisch in die Knie. Agathon hatte den Schrei bis in den Garten gehört und stürzte ins Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen. Er begriff sofort, dass etwas Entsetzliches passiert sein musste, und legte Krates tröstend die Hände auf die Schultern. Andere Studenten schauten durch die Zimmertür, als plötzlich Dionysios erschien und wissen wollte, was geschehen sei.
Krates erhob sich zitternd und deutete mit dem Kopf auf die Briefrolle.
»Hat dir dein Mädchen geschrieben, dass es nichts mehr von dir wissen will?«
»Nein«, antwortete er verzweifelt. »Myron und mein Vater sind tot. Das Erdbeben hat sie umgebracht und …« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch ein erneuter Weinkrampf überkam ihn und er vergrub das Gesicht in den Händen.
Dionysios wirkte wie versteinert. Er scheuchte die anderen Studenten aus dem Zimmer und nahm Krates fest in die Arme. Eine ganze Weile standen sie so da, bis sich Dionysios langsam von ihm löste.
»Der Verlust deines Vaters und deines Lehrers tut mir sehr leid, Krates. Wie du weißt, war ich den beiden freundschaftlich verbunden und ihr Tod schmerzt mich genauso. Aber das Leben, und damit meine ich vor allem dein Leben, geht weiter. Du musst jetzt deine Sachen packen und nach Hause reiten.«
»Aber mein Studium«, stammelte Krates.
Dionysios lächelte ihn freundlich an. »Um dein Studium brauchst du dich nicht zu sorgen. Du reitest jetzt nach Mallos und bleibst dort so lange, wie es die Umstände erfordern. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass du hier den Anschluss nicht verpasst. Und jetzt pack deine Sachen.«
Nachdem Dionysios gegangen war, kehrte Agathon zurück. »Er hat mich gebeten, heute in deiner Nähe zu bleiben. Aber das hätte ich auch so getan. Wenn du also Hilfe brauchst, dann sag es mir nur. Hast du mich verstanden?«
Krates nickte stumpf vor sich hin, ausgeliefert seinem Zorn, seiner Trauer und Skepsis. Er ließ sich aufs Bett fallen und spürte eine nie gekannte Leere.
Als er am frühen Abend erwachte, war er zunächst verwirrt. Irgend jemand musste ihn zugedeckt haben, und dieser Jemand schien an seinem Tisch zu sitzen. Krates blinzelte ins Zimmer und erkannte seinen Freund Agathon. Erst dachte er mit schlechtem Gewissen, er habe schon wieder verschlafen, doch dann erinnerte er sich an die traurigen Ereignisse des Vormittages und kehrte in seinen Dämmerzustand zurück.
»Wir müssen noch ein paar Sachen für dich packen«, sagte Agathon ruhig. »Und danach sollten wir etwas essen gehen, damit du mir morgen nicht vom Pferd fällst.«
Krates blickte ihn zweifelnd an, doch Agathon hob abwehrend die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Du hältst das nicht für notwendig, aber das ist mir ziemlich gleichgültig. Der Wind in der Ebene ist eiskalt, und wenn du dort einen Sturz baust, erfrierst du. Außerdem musst du früher oder später den Saros überqueren. Glaub mir, du wirst mir noch dankbar sein, dass ich dich begleite.«
Krates nickte müde, denn er musste sich eingestehen, dass sein Freund vermutlich recht hatte. Nachdem er mit Agathons Hilfe seine Kleider verstaut hatte, machten sie sich auf den Weg in den Speiseraum und aßen schweigend ihre Linsensuppe.
»Hör mal«, sagte Philopatros, der sich ungebeten zu ihnen gesetzt hatte, »das mit deinem Vater tut mir sehr leid. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, würde ich dir gerne helfen.«
Krates bedankte sich für seine Anteilnahme, verspürte aber auch keine Lust, das Gespräch weiter zu vertiefen.
»Meint er das ernst?« fragte er später, nachdem Philopatros wieder gegangen war.
»Der gute Mann meint alles ernst, was er sagt. Das ist ja gerade das Langweilige an diesem Menschen. Aber wundern tut es mich dennoch. Ich hatte immer gedacht, er würde von dir überhaupt keine Notiz nehmen.«
»Und wie sollte er mir helfen können?«
»Oh, Philopatros ist reich. Außerdem hat er ganz gute Beziehungen, wenn es mal drauf ankommt. Ich an deiner Stelle würde dieses Angebot nicht vergessen.«
»Ich werd’s mir merken.«
Als ihn Agathon am nächsten Morgen weckte, fühlte sich Krates unwillkürlich an jenen Sommermorgen erinnert, an dem er Mallos verlassen hatte. Schmerzhaft fiel ihm der Tod seines Vaters ein, um dessen willen er heute zurückkehrte. Doch Agathon ließ ihm keine Zeit sich in Erinnerungen zu verlieren. Nach einem kurzen Frühstück verabschiedeten sie sich von Dionysios und den Studenten und sattelten ihre Pferde. Als sie endlich durch das Stadttor in die weite Ebene vor Tarsos ritten, war Krates heilfroh, seinen erfahrenen Freund bei sich zu wissen. Denn der kalte Nordwind blies ihnen eisig in die Flanken und wirbelte den Schnee dermaßen auf, dass der Weg immer wieder im Weiß zu verschwinden drohte.
Je weiter sie nach Südosten kamen, desto milder wurde die Luft. Gegen Mittag erreichten sie den Saros an einer Stelle, wo das Flussbett so breit war, dass die Pferde die Furt passieren konnten, ohne dass sie dazu absteigen mussten. Als sich schließlich auch der Schnee langsam lichtete und allmählich den grünen Wiesen der kilikischen Ebene wich, machten sie Halt, um zu rasten.
»Wo wohnst du eigentlich in Mallos?« fragte Agathon.
»Direkt an der Stadtmauer, vor dem Magarsator. Es ist ein schönes Haus mit einem großen Hof in der Mitte, Efeu und Rosen an den seitlichen Wirtschaftsräumen und einem alten Kirschbaum am Hoftor. Es wird dir gefallen und mein Vater …«
Krates brach abrupt ab und starrte verzweifelt in die Ebene. Und mein Vater ist tot, dachte er sich. Er schluckte, bevor er seinen Satz zu Ende führte. »Es ist wirklich schade, dass du meinen Vater nicht mehr kennenlernst. Ich bin mir sicher, ihr hättet euch auf Anhieb verstanden.«
Die Sonne war längst untergegangen, als sie die Mauern von Mallos erreichten. Krates erschrak, als er das Ausmaß der Zerstörungen erkannte. Weite Teile der Befestigungsanlagen waren beschädigt und viele der Häuser hinter dem Stadttor bis auf die Grundmauern zerstört. Eine Baustelle drängte sich an die nächste, doch am meisten irritierte ihn die Grabesstille, die sich über die sonst so belebte Weststadt gelegt hatte. Fröstelnd führte er seinen Freund durch die Ruinen, bis sie schließlich das Haus seiner Kindheit erreichten. Es dauerte eine Weile, bis Mela verstand, dass man sie gerufen hatte. Doch als sie mit einer
Fackel im Hof erschien und Krates erblickte, war sie so aufgeregt, dass sie es kaum schaffte das Tor zu öffnen. Es war ein herzliches und tränenreiches Wiedersehen. Mela führte sie in die Küche und servierte ihnen eine heiße Gemüsesuppe, frischen Feldsalat, Brot und einen Becher Wein. Orthygia hatte sich angesichts des Fremden einen Mantel übergezogen und musterte Krates mit anerkennenden, aber gleichwohl auch traurigen Blicken. »Du bist ganz schön gewachsen, Bruderherz. Ein richtiger Mann bist du geworden.«
Krates nickte seiner Schwester müde zu und bewunderte wieder einmal ihre Schönheit. »Es sieht hier ziemlich schlimm aus«, brachte er schließlich hervor und ließ sich von den Frauen über das Erdbeben berichten.
Nachdem sich Orthygia zurückgezogen hatte, trug Mela das Gepäck ins Haupthaus und bezog ihnen zwei neue Betten. Krates und Agathon blieben derweil in der Küche sitzen und leerten erschöpft die Amphore Wein.
»Es scheint«, deutete Agathon mit einer Kopfbewegung Richtung Hof an, »als hätten die Götter Euer Haus vor noch Schlimmerem bewahrt.«
»Vielleicht«, seufzte Krates. »Auch wenn mir das zu erkennen im Moment etwas schwerfällt.«
Agathon nickte stumm und betrachtete verlegen seinen Becher.
»Deine Schwester ist eine wunderschöne Frau.«
»Oh ja«, lächelte Krates und erzählte ihm von den Abenden, an denen er mit Orthygia und ihren Freundinnen unterwegs war und von den Männern beneidet wurde, die ja nicht wissen konnten, dass sie seine Schwester war.
»Meinst du, sie kommt über den Verlust eures Vaters hinweg?«
»Bestimmt. Vater hat immer gesagt, das Leben geht weiter. Und Orthygia hat das eher verstanden als ich. Weißt du übrigens, was ich komisch finde?«
»Nein.«
»Dass ich hier nicht weinen kann. Früher war das kein Problem und auch in Tarsos habe ich mich damit ja nicht schwer getan. Aber vor Mela und meiner Schwester mag ich meine Trauer irgendwie nicht zeigen.«
»Das finde ich ganz normal«, beruhigte ihn Agathon. »Du bist eben jetzt das Familienoberhaupt. Und der Leitwolf heult, wenn überhaupt, nur den Mond an. Wichtig ist nur, dass du wenigstens in Tarsos oder vor mir oder sonstwo deine Gefühle zeigst. Glaub mir, weinen hat nichts mit mangelnder Männlichkeit zu tun, ganz im Gegenteil. Bei der Tapferkeit verhält es sich genauso wie beim Mut: Tapfer ist nicht derjenige, der alles erträgt, weil es nichts gibt, wovor er sich fürchtet, sondern viel mehr der, der selbst die Dinge ertragen kann, die ihn normalerweise aus der Ruhe bringen. Das kann aber nur funktonieren, solange man sich ab und zu von all dem Unsinn befreit, der sonst die Seele belasten würde.
Davon abgesehen, könnte man sich doch auch ruhig einmal fragen, warum man die Toten überhaupt beweinen soll? Du erinnerst dich, dass ich dir neulich von Epikur erzählte. Epikur trauerte nicht um den Tod seiner Freunde, sondern freute sich viel mehr über die Zeit, die sie miteinander verbringen konnten.
Ich habe deinen Vater natürlich nie kennengelernt, aber er scheint mir doch eher einer von jenen gewesen zu sein, die sich dem Leben zugewandt haben und sich über ein heiteres Gelächter und eine so freudige wie respektvolle Erinnerung viel mehr gefreut hätten als über ein trauerndes Schluchzen wegen seines Verlustes.«
Krates fand den Vergleich amüsant und nickte zustimmend mit dem Kopf. »So habe ich es zwar noch nie betrachtet. Aber du hast Recht, es ergibt Sinn.«
Als er am nächsten Morgen das vertraute Krähen des alten Hahnes vernahm, fühlte er eine tiefe Zuversicht in sich aufsteigen. Diesmal erinnerte er sich sofort an den schmerzlichen Grund seines Besuches, doch er verspürte auch die Gewissheit, dass es für alles eine Lösung gab. Agathon schnarchte noch immer auf seinem Bett und Krates ließ ihn schlafen. Er hatte sich seine Ruhe redlich verdient und Krates wurde beschämt, als er daran dachte, wie viele Gefahren sein Freund auf sich genommen hatte, nur um ihm zu helfen.
Krates war klar geworden, dass der gestrige Ritt bei weitem nicht so ungefährlich gewesen war, wie er anfangs gedacht hatte. Von Zeit zu Zeit hatte er die Anspannung gespürt, wenn die Wege unter dem Schnee nicht mehr zu erkennen waren. Doch Agathon hatte sich seine Beunruhigung nie anmerken lassen und Krates immer das Gefühl gegeben, bei ihm in sicheren Händen zu sein. Er bewunderte Agathons innere Stärke und war ihm für seine freundschaftliche Treue von Herzen dankbar. Leise schlich er über die Treppe in den Hof und wusch sich am Brunnen.
Die Luft in Mallos war zwar wesentlich milder als in Tarsos, doch ihn fröstelte und so zog er sich rasch an, um schnell in die warme Küche zu kommen.
»Alles fließt«, zitierte er traurig, als ihm Mela seinen heißen Morgentee reichte.
»… und steht doch still«, vervollständigte sie das Zitat.
Krates blickte sie verwundert, ja fast verständnislos an, was Mela ein verschmitztes Lächeln entlockte.
»Ganz so unwissend bin ich nun auch nicht. Außerdem sollte man Zitate immer vollständig bringen.«
»Was weißt du denn von Heraklit?«
»Nicht viel«, gab Mela zu und betrachtete ihre abgearbeiteten Hände. »Wir haben darüber nie gesprochen, Krates, auch wenn du dir sicher schon gedacht haben wirst, dass ich nicht als Sklavin geboren wurde. Meine Familie stammt ursprünglich aus Syrakus, einer griechischen Stadt auf Sizilien, am anderen Ende der Welt. Mein Vater war Ingenieur am Hofe des Königs und baute Katapulte für die Stadt. Und als solcher war er natürlich mit dem politischen und gesellschaftlichen Wandel vertraut und wusste, dass sich die Dinge manchmal schlagartig ändern können, ohne dass dadurch etwas wirklich Neues entsteht. So gesehen, bin ich mit dem Spruch des Heraklit gewissermaßen aufgewachsen.«
»Und wie bist du von Syrakus nach Mallos gekommen?«
»Oh je, das ist eine lange Geschichte. Meine Stadt lag im ständigen Kampf mit den Phöniziern. Bei einem ihrer Angriffe konnten sie in die Stadt eindringen und haben ein paar hundert Bürger, darunter auch mich und meine Eltern gefangen genommen und als Sklaven verkauft. So kam ich zuerst nach Karthago und Jahre später nach Ägypten. Na ja, und in Ägypten lernte mich dann dein Vater kennen. Er kaufte mich und nahm mich mit nach Mallos, was mir ehrlich gesagt, gar nicht so unlieb war, weil ich auf diese Weise wieder in einen für mich vertrauteren Kulturkreis kam, dessen Sprache ich verstand und der meine Götter als die seinen akzeptieren konnte. Und dein Vater hat mich besser behandelt als alle anderen, unter denen ich zuvor dienen musste.«
»War das, als mein Vater bei Myron und Dionysios war?«
»Ganz recht. Timokrates hatte mich hauptsächlich wegen meiner griechischen Kochkünste gekauft. Dein Vater mochte die ägyptische Küche nicht, daher aß er meistens in seiner Herberge, wenn er aus dem Palast zurückkam. Aber manchmal bat er mich auch, das Essen ins Museion zu bringen und bei einer dieser Gelegenheiten bin ich dann Myron und diesem Dionysios begegnet. Ein gut aussehender Mann mit ehrbaren Manieren.
Weißt du, Krates, du kannst dir nicht vorstellen, was es bedeutet, in einem fremden Land Sklavin zu sein. Jetzt, da ich frei bin, kann ich offen darüber sprechen, auch wenn es mir nicht immer leicht fällt. Für viele Männer bist du nur ein Stück Fleisch, das ihren Launen zu gehorchen hat, ganz gleich, ob du ihnen gehörst oder ihnen nur zufällig begegnest. Sie schlagen und schubsen dich oder erniedrigen dich mit ihrem Spott. Und nahezu jeder fasst dich an. Dieser Dionysios aber war anders als die feinen Herren von der Bibliothek. Wir unterhielten uns auf Griechisch, obwohl er eigentlich Ägypter war. Er erzählte mir, dass er am Museion studiere, unter anderem bei dem Freund und Lehrer meines Herrn. Dann fragte er mich nach meiner Herkunft und schenkte mir schließlich zwei Goldstücke, damit ich mir etwas Schönes zum Anziehen kaufen könne. Das Kleid habe ich noch heute.«
Krates bedachte sie mit einem langen Blick. »Es tut mir leid, dass dir das Schicksal so viel zugemutet hat. Aber ich danke dir, dass du mir diese Geschichte von Vater und Dionysios erzählt hast.«
»Ach, Timokrates …« Mela stockte und vergrub weinend das Gesicht in den Händen. Krates spürte wieder die Trauer in sich aufsteigen. Er stand auf, nahm Mela in die Arme und führte sie zurück zur Küchenbank. Doch so gern er gewollt hätte, auch jetzt war es ihm nicht möglich seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Als Orthygia eintrat, nickte sie ihnen stumm zu. Krates sah, dass sie geweint hatte und schluckte.
»Dein Freund da«, hob Mela an, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, »macht einen vernünftigen Eindruck. Solche Männer findet man nicht wie Sand am Meer. Den solltest du dir warm halten.«
»Stimmt«, erwiderte Krates, froh das Thema wechseln zu können. »Agathon ist wirklich ein Prachtkerl.«
»Und er sieht hinreißend aus«, schwärmte Orthygia, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Findest du?« fragte Krates, doch der einstimmige Blick der beiden Frauen besagte alles. »Na ja, immerhin scheint diese Einschätzung auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Denn das Gleiche hat er mir gestern Abend von dir gesagt. Aber man müsste ja auch blind sein, um das nicht bestätigen zu können.«
»Ach, Krates«, lächelte Orthygia traurig, »warum kannst nicht einfach bei uns bleiben?«
»Guten Morgen, allerseits«, begrüßte sie Agathon und stemmte dabei seine Hände gegen die Türpfosten.
Mela ging auf ihn zu und nahm ihn zu seiner Verwunderung herzlich in die Arme. Sie führte ihn zum Küchentisch und servierte ihm Tee und aufgewärmtes Brot. Während des Frühstücks erklärte Agathon, er wolle den Tag nutzen, um einen Blick auf die Schäden des Hauses zu werfen. Vielleicht könne er ja das Eine oder Andere selbst reparieren.
Krates sah ihn spöttisch an. »Du meinst, du willst dich handwerklich betätigen?«
»Natürlich. Oder heiße ich etwa Dionysios?«
Krates lachte, denn er konnte der aristokratischen Haltung, die es ihnen verbot, sich mit den Handwerkern auf eine Stufe zu stellen, genauso wenig abgewinnen wie Agathon. Er versprach ihm zu helfen, räumte aber auch ein, zuvor noch das Grab seines Vaters und anschließend seinen Freund Hippias besuchen zu wollen. Agathon winkte ab.
»Du musst mir nicht helfen, Krates. Ich komme schon allein zurecht. Kümmere du dich lieber um die Deinen. Ich bin ehrlich gesagt froh, wenn ich hier etwas zu tun habe und mich obendrein auch noch nützlich machen kann.«
Nach einer kurzen Pause, in der niemand etwas sagen mochte, holte Krates tief Luft und erkundigte sich nach dem Grab seines Vaters.
»Er liegt auf dem Friedhof vor dem Magarsator«, antwortete Orthygia und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
Krates war unvermittelt aufgestanden. Die beiden Frauen folgten ihm in den Hof und führten ihn durch die verwüsteten Straßen von Mallos auf den Friedhof außerhalb der Stadtmauern. Als sie vor der marmornen Giebelstele standen, auf der sich ein geschmackvolles Epigramm mit der Aufforderung befand, das Leben sinnvoll und ehrbar zu nutzen, nahm er still von seinem Vater Abschied. In Gedanken berichtete er ihm von seinen Anfängen in Tarsos und wünschte ihm eine gute und vor allem erkenntnisreiche Zeit im Jenseits.
Als sie in die Stadt zurückkehrten, spürte Krates eine gewisse Erleichterung. Er erzählte Mela und seiner Schwester von Epikur und dessen Einstellung zum Tod und der Gedanke an Timokrates’ Reaktion entlockte den Frauen ein erlösendes Lachen. In die Ratsgasse zurückgekehrt, sahen sie Agathon mit einer Wachstafel auf dem Dachsattel sitzen und freudig winken. Er rief ihnen zu, dass sich die Schäden allesamt reparieren ließen und widmete sich wieder seiner Bestandsaufnahme. Während sich Mela an die Zubereitung des Mittagessens machte, setzte sich Orthygia mit Krates in den Hof und erläuterte ihm das Testament ihres Vaters. Demnach sollte sie selbst das Haus behalten, damit sie mit Mela weiterhin dort wohnen könne. Krates dagegen sollte achttausend Goldstücke erhalten, die von den Priestern des Athenaheiligtums verwahrt wurden.
Am Nachmittag hatte sich Agathon von Krates etwas Geld geben lassen und war auf den Markt gegangen, um ein paar Besorgungen für seine Reparaturen zu machen. Nachdem er mit einem kleinen Karren voller Baumaterial zurückgekehrt war, legte er ein kleines Bündel auf den Fußboden und fragte Orthygia, ob er sie zeichnen dürfe. Nachdem sie erstaunlich schnell eingewilligt und ihr schönes Haupt ins Profil gelegt hatte, nahm er eine Holztafel und skizzierte mit einem schlanken Kohlestift die ersten Grundzüge. Mela und Krates schauten ihm dabei über die Schulter und beobachteten fasziniert, wie auf der Holztafel unverkennbar Orthygias Portrait entstand. Als Agathon nach einer guten Stunde fertig war, klatschte Mela vor Begeisterung in die Hände. Orthygia eilte ins Haus und kehrte mit einem Spiegel zurück. Sie reichte ihn Agathon und bat ihn, auch von sich selbst ein Portrait zu malen. Krates runzelte die Stirn, doch noch bevor er fragen konnte,
was denn Agathon mit einem Bild von sich selbst anfangen sollte, hatte ihn Mela schon am Ärmel gepackt und in die Küche gezogen.
»Weißt du, wann ihr wieder abreist?«
»Nun«, überlegte Krates, »wenn ich Agathon richtig verstanden habe, werden die Reparaturen am Haus kaum länger als einen Tag in Anspruch nehmen. Ich selbst werde wohl morgen zum Athenaheiligtum gehen und dort meinen Erbanteil abheben. Dann werden wir Proviant einkaufen und in zwei oder drei Tagen wieder zurückreiten.«
Krates sah, wie Mela nachdenklich nickte.
»Könntest du dir übrigens vorstellen, dass wir dein altes Zimmer vermieten? Irgendwie müssen Orthygia und ich ja jetzt zusehen, wie wir uns etwas dazuverdienen. Und für dich wird es immer einen Platz geben.«
»Natürlich. Habt ihr denn schon einen Mieter in Aussicht?«
»Ja, den Schwiegervater von Stephanos. Das Erdbeben hat sein Haus zerstört. Also sucht er jetzt nach einer Bleibe, die seinen Verhältnissen entspricht. Die Miete zahlt uns Stephanos, und sein Schwiegervater ist wirklich ein rührender, alter Mann.«
Krates atmete erleichtert auf, denn der Gedanke an einen Fremden in diesem Haus hätte ihm gar nicht gefallen. Sie beobachteten, wie Agathon auch sein zweites Bild an Orthygia überreichte und sie das Portrait lange mit dem ihr gegenüberliegenden Gesicht verglich. Dann errötete sie und gab Agathon das Bild mit ihrem eigenen Kopf zurück.
Den Abend verbrachten sie in der warmen Küche und genossen Melas Kochkünste. Agathon schien von den Frauen längst akzeptiert, doch er war so sehr in sein Gespräch mit Orthygia vertieft, dass sich Krates hauptsächlich mit Mela unterhalten musste. Als sie sich schließlich zu Bett begaben, herrschte unter ihnen die gleiche Eintracht wie zu Timokrates’ Lebzeiten und Krates wurde bewusst, dass ihn seine morgendliche Zuversicht nicht getäuscht hatte.