Der Schmerz bahnte sich blitzartig seinen Weg durch Krates’ Körper und ließ ihn aufschreien. Irritiert blinzelte er in das vom Tageslicht nur schwach beleuchtete Zimmer, hörte das gleichmäßige Rauschen des Regens und das sich langsam entfernende Rattern eines Wagens. Langsam kehrten seine Gedanken zurück und mit den Gedanken auch die Erinnerung: Der gemeinsame Abend mit den Senatoren, sein Heimweg und der Kanalschacht. Eine plötzliche Bewegung ließ ihn aufmerken und er blickte auf eine Gruppe von Männern, die sich gedämpft miteinander unterhielt. Er erkannte Crassus und einen seiner Sklaven, aber auch Attalos, Ariston und Stratios.
»Krates, mein Junge«, sagte Ariston, der zu ihm getreten war und ihn traurig anblickte. »Was machst du nur für Sachen?«
»Tut mir leid, wenn ihr meinetwegen kommen musstet.«
»Ach, wenn es nur das wäre! Aber deinetwegen müssen wir wohl auch allein nach Pergamon zurückkehren.«
»Ihr … ihr wollt mich hier zurücklassen?« stotterte Krates und bekam auf einmal fürchterliche Angst.
»Es geht nicht anders. Stratios sagt, dass du mit deinem gebrochenen Schienbein unmöglich reiten kannst. Aber Eumenes wartet auf die Antwort und wir alle haben in Pergamon unsere Aufgaben. Du wirst hier also wohl oder übel überwintern müssen. «
Krates biss die Zähne zusammen und nickte tapfer. Eine neue Welle des Schmerzes durchfuhr ihn und er verzog stöhnend das Gesicht. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass man in den Beinen solche Schmerzen haben kann.
Attalos umfasste tröstend seine Hand und seufzte. »Unsere Interessen werden mit Füßen getreten und unsere Gelehrten landen in der Kanalisation. Hättest du nicht wenigstens über einen Stein stolpern können?«
Krates schloss die Augen und begann zu lachen. Nach einer Weile hörte er, dass auch die anderen mit lachten, erst leise und verhalten, dann immer lauter und befreiender, bis das Gelächter durch den Raum hallte und sie sich die Tränen abwischen mussten.
»Ich werde schon irgendwie klarkommen.«
»Ich wünsche es dir von Herzen, mein Junge. Werde gesund und komm schnellstmöglich wieder nach Hause.«
Krates drehte sich behutsam auf die Seite und kniff die Augen zusammen, als er sein rechtes Bein spürte.
»Es geht mich eigentlich nichts an«, sagte er leise zu Attalos. »Aber es würde mir auch keine Ruhe lassen, wenn ich es mir nicht irgendwie erklären könnte: Bis zum Tag unserer Anhörung hatte ich immer gedacht, es ginge hier nur um die Ehrenhaftigkeit unter Bundesgenossen. Doch allem Anschein nach drohen uns noch ganz andere Gefahren als die Galater. Deshalb würde ich gerne wissen, ob unsere Mission überhaupt eine Chance auf Erfolg hatte? Oder ob es von vornherein ein abgekartetes Spiel war?«
Attalos lächelte ihm müde zu. »Sagen wir mal so: Für uns sind die Galater eine ernst zu nehmende Gefahr, doch die Römer sehen das aus einer viel globaleren Perspektive. Sie sagen zum Beispiel, es gebe ein altes und ein neues Europa. Das alte Europa, und damit meinen sie vor allem Hellas und Asien, hätte ausgedient und müsse sich der neuen Weltordnung fügen, die freiheitlicher, sicherer und stabiler sein und natürlich unter römischer Oberhoheit stehen wird. Und jeder, der dabei nicht auf Seiten Roms stehe, steht gegen Rom. Die Galater sind in diesem Plan natürlich ein unbestrittener Störfaktor, aber machen wir uns nichts vor: Sie sind es nicht mehr als ein wiedererstarkendes Reich in Westkleinasien. Ich muss leider zugeben, dass mir das erst gestern Abend klar geworden ist, als ich genügend Zeit hatte mir die römischen Argumente anzuhören und zu überdenken. So gesehen war unsere Mission tatsächlich zum Scheitern verurteilt. Aber vielleicht war dies ja auch gar nicht ihr einziger Sinn.«
Krates horchte auf. »Was meinst du?«
»Stratios erzählte mir heute Morgen, dass ihn Eumenes vor unserer Abreise mit der Aufgabe betraut habe, eine Beeinflussung meinerseits rechtzeitig zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Mein Bruder scheint also geahnt zu haben, worauf es bei unserer Anhörung hinauslaufen würde. Und das lässt eigentlich nur einen möglichen Schluss zu, nämlich den Versuch sich dem Expansionsdrang der Römer nicht einfach unterzuordnen, sondern ihn wenn schon nicht aufzuhalten, so doch wenigstens hinauszuzögern. Und eben das ist uns offensichtlich gelungen.«
Attalos nahm Krates’ Hand und drückte sie behutsam. »Du wirst mir fehlen, Junge. Aber wir müssen langsam aufbrechen, damit wir noch vor den Herbststürmen heil über die Ägäis kommen.«
»Bestell Leonidas meine Grüße und bitte ihn, die Bibliothek noch ein halbes Jahr weiterzuführen, bis ich wiederkomme. Und grüße auch deinen Bruder.«
»Machen wir. Und du, Krates, werde bald gesund. Leb wohl!«
Attalos, Stratios und Ariston drückten ihm nacheinander die Hand und verschwanden. Crassus und sein Sklave hatten den Raum schon vor einiger Zeit verlassen, so dass Krates nun gänzlich allein war. Die Einsamkeit übermannte ihn und er vergrub das Gesicht in den Kissen. Es dauerte eine Weile, bis er die Maske der Tapferkeit fallen lassen konnte und weinte bitterlich.
Krates erwachte und stöhnte leise vor sich hin, denn ihm tat alles weh. Vor sich sah er die verschwommenen Umrisse einer sitzenden Gestalt, die ihn freundlich anlächelte. Er versuchte sich zu konzentrieren und erkannte, dass es Scipio war.
»Scipio«, lächelte er schwach. »Was machst du denn hier?«
»Man sagte mir, du habest dich entschlossen, deinen Aufenthalt in Rom doch noch ein Weilchen zu verlängern. Und da wollte ich der erste sein, der dich dazu beglückwünscht.«
Krates lachte. »Ja, eure Kanalschächte sind wirklich sehenswert.«
Scipio erwiderte das Lachen. »Mach dir nichts draus. Du bist nicht der erste, der in so ein Ding hineinfällt. Ich verstehe nur bis heute nicht, warum die Arbeiter die Schächte nach Feierabend nicht ausreichend sichern.«
»Hmm«, brummte Krates ungehalten und unterdrückte mühsam den Drang vor Schmerzen laut loszuschreien.
Scipio nickte ernst und umfasste dabei behutsam Krates’ Hand. »Ich weiß, wie sehr das weh tut. Ich war letztes Jahr mit meinem Vater in Makedonien, wo wir gegen König Perseus kämpften. Eines Tages traf mich ein Speer und brach mir das Schienbein. Der Krieg war damit für mich vorbei, aber man überlebt es, wie du siehst. Und es hinterlässt auch keine Spuren.«
Krates lächelte dankbar und drückte Scipios Hand fest an sich. Es tat gut, seine Nähe zu spüren und zu wissen, dass er nicht allein war. So ließen sich die Schmerzen wenigstens für kurze Zeit vergessen.
»Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht«, verkündete Scipio stolz und bückte sich, um seinem Beutel eine dicke Schriftrolle mit den überlieferten Sprüchen des Epikur zu entnehmen. »Ich dachte mir, ein bisschen Lektüre kann nicht schaden.«
»Oh Scipio«, stöhnte Krates, als er von einer neuen Schmerzwelle erfasst wurde, »wie soll ich dir nur danken?«
»In dem du so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommst. Mein Adoptivvater ist ein tüchtiger Mann, aber er wird von Roms Gesellschaft gemieden, weil er sich weder in den Legionen noch politisch jemals betätigt hat. Werde gesund und zeige ihm, dass sein Geist eine Qualität hat, die genauso viel wiegt wie die zahlreichen Siegeskränze eines Feldherren oder das mächtige Wort eines Senators.«
Krates hörte den Schmerz, der in Scipios Rede mitschwang und fasste den Entschluss, sich bald schon um Cornelius zu kümmern.
Die Tage verstrichen und Krates kam allmählich wieder zu Kräften. Crassus hatte einen seiner alten Freunde zu sich gebeten, einen Militärarzt, dessen Fertigkeiten sich schon auf manchem Feldzug bewährt hatten. Der Arzt vermaß Krates’ Körper und baute ihm eine Holzkonstruktion, die um seinen Oberschenkel geschnallt wurde und es ihm erlaubte, den rechten Holzfuß aufzusetzen, ohne dabei den gebrochenen Unterschenkel zu belasten. Auf diese Weise konnte er sich mit seinen Krücken wenigstens für kurze Strecken auf und ab bewegen.
Eines Nachmittages war Scipio mit einem Karren voller Heu erschienen und hatte ihn vom Palatin ins Velabrum gefahren, wo er fortan von Cornelius beherbergt wurde. Als ihm Silanos am Abend das Essen ans Bett stellte, bedankte sich Krates in akzentfreiem Pisidisch und fragte, ob er nicht Lust habe ihm beim Essen Gesellschaft zu leisten.
»Ich habe leider nicht viel Zeit«, erwiderte Silanos in seiner Muttersprache. »Aber für einen Moment wird es gehen. Wieso sprichst du eigentlich Pisidisch?«
»Ich hatte während meines Studiums einen Freund, der aus Olbasa stammte und mit seinem pisidischen Akzent manchmal kaum zu verstehen war. Naja, und so hat er es mir eben beigebracht.«
»Alle Achtung!« staunte Silanos. »Dafür sprichst du die Sprache aber nahezu perfekt.«
»Danke. Und du? Woher kommst du?«
Silanos knirschte mit den Zähnen. »Ich stamme aus Termessos, der schönsten und traditionsreichsten Stadt Pisidiens. Ein dummer Zufall trieb mich nach Rom und manchmal wünschte ich, ich könnte ihn ungeschehen machen.«
»Lass mich raten«, seufzte Krates. »Du hast den Fehler gemacht und bist allein nach Pamphylien gegangen. Und irgendwo da unten haben dich die Sklavenhändler entführt und über Side oder Rhodos an die Römer verkauft, stimmt’s?«
Silanos stand seine Verwunderung ins Gesicht geschrieben. »Woher weißt du das?«
»Ich hatte mal einen Jugendfreund, der seit jenem Tag, als meine Heimatstadt von den Piraten angegriffen wurde, spurlos verschwunden war. Sie hatten ihn gefangen genommen und auf dem Sklavenmarkt von Side verkauft. Ein göttlicher Zufall brachte uns dann in Sagalassos wieder zusammen. Er sollte gerade verkauft werden, als ich ihn erkannte. Und so habe ich ihn dann genommen.«
»Und was ist aus diesem Freund geworden?«
»Er hat mich bis nach Pergamon begleitet und arbeitet dort als Ingenieur.«
»Was für eine so schöne Geschichte! Nun, einen Freund wie dich hatte ich leider nicht. Aber ich kann mich nicht beklagen: Cornelius und seine Familie behandeln mich gut und es gibt weitaus Schlimmeres als die Arbeit in diesem Hause.«
Krates bemerkte die wachsende Unruhe des Sklaven und wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. »Das Essen war wirklich ausgezeichnet«, lobte er und stellte die leere Schüssel neben sich auf den Tisch.
»Ich werd’s den Köchen ausrichten«, lächelte Silanos, nahm das Geschirr und verschwand aus dem Zimmer.
Ein sympathischer Kerl, dachte sich Krates. Silanos mochte vielleicht in seinem Alter sein, aber er war doch eher der Hippiastyp; kräftig gebaut und mit einem selbstsicheren Auftreten. Offensichtlich keiner von jenen, die man in die Arena schickt.
Eines Morgens, und Krates sollte diese Erinnerung noch Jahre später mit den herbstlich gefärbten Bäumen am Kapitol in Verbindung bringen, befand er sich auf dem Weg zur Hauslatrine, als er auf einmal in das vermutlich schönste Lächeln blickte, das er jemals gesehen hatte. Verwundert richtete er sich auf und lehnte sich gegen eine der Atriumsäulen. Die junge Frau, die in der Halle stand, hatte ihren Kopf leicht zur Seite geneigt und strahlte ihn fröhlich an.
»Wer bist du?« fragte er sie in seinem gebrochenen Latein.
»Jemand, der eigentlich gekommen ist, um zu sehen, wer du bist«, erwiderte sie auf Griechisch. »Mein Name ist Livia und ich wohne im Nachbarhaus. Ich habe dich übrigens neulich schon einmal gesehen, als du Cornelius in Begleitung dieses Soldaten besucht hast.«
Krates sah sie verwundert an. »Woher weißt du dann, dass er Soldat war?«
Livia lachte wieder und schüttelte dabei ihren Kopf, so dass ihr ein paar Strähnen ins Gesicht fielen. »Meine ganze Familie besteht aus Kriegern«, sagte sie und kämmte sich dabei die Strähnen aus dem Blickfeld. »Wenn man damit aufwächst, weiß man, wie ein Soldat aussieht und wie er sich bewegt.«
»Na schön«, sagte Krates und bereute es fast, ihr keine stattlichere Statur bieten zu können. »Dann dürftest du dich jetzt endgültig davon überzeugt haben, dass ich niemals beim Militär gewesen sein kann.«
»Das macht dich ja gerade so sympathisch.«
Krates sah, wie sie rot wurde und sich nervös auf die Unterlippe biss. Aber sie wandte sich nicht ab, sondern hielt seinem fragenden Blick tapfer Stand.
»Scipio erzählte mir, dass du ein Mann des Wortes und ein Verfechter des Friedens seist.«
Krates blinzelte glücklich. »Das trifft die Sache, würde ich sagen, ziemlich auf den Punkt.«
»Dann freue ich mich, dich kennengelernt zu haben. Es würde Rom nicht schaden, wenn es hier mehr von deiner Sorte gäbe.«
Krates lächelte über ihre Direktheit.
»Also«, sagte sie und wandte sich zum Gehen, »ich muss weiter. Aber wir sehen uns bestimmt einmal wieder.«
Krates winkte ihr nach, bis sie das Atrium verließ und war wie verzaubert.
Verwirrt, aber irgendwie auch glücklich setzte er seinen Weg zur Hauslatrine fort und humpelte anschließend in sein Zimmer zurück. Vor allem ihr Schlusssatz wollte ihm nicht aus dem Kopf: ›Wir sehen uns bestimmt einmal wieder‹. Er konnte es kaum erwarten!
Von diesem Tag an trainierte Krates jeden Morgen das Laufen. Anfangs schnallte er sich noch immer die Holzkonstruktion an, um sein Bein nicht unnötig zu belasten und lernte allmählich sich mit den Krücken wie selbstverständlich auf und ab zu bewegen. Immer häufiger verließ er nun sein Zimmer, um vors Haus zu treten und den Blättern nachzuschauen, die der Wind von den Bäumen des Kapitols über die Straße wehte, oder im Innenhof des Atriums dem Regen zu lauschen, der von den Dächern der Säulenhallen in die
Gräben tropfte. Und so trieb es ihn eines Nachmittages wie von selbst in die Bibliothek seines Gastgebers.
»Krates!« begrüßte ihn Cornelius freudig. »Wie schön, dich hier zu sehen. Wie geht es dir?«
»Das Liegen geht mir ziemlich auf die Nerven«, gab Krates zurück und nahm sich eine der Schriftrollen aus dem Regal, um sie kurz zu überfliegen und behutsam wieder ins Regal zurückzuschieben. »Darf ich dich in deiner Arbeit stören?«
»Aber ja«, erwiderte Cornelius und legte seine Lektüre beiseite.
»Dann möchte ich dich etwas fragen: Welchem Hauptzweck dient deine Bibliothek eigentlich?«
»Nun, das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich würde sagen, sie verfolgt drei Ziele. Erstens dient sie mir als
Schriftensammlung für meine Arbeit, zum Zweiten ist sie Gegenstand meiner Leidenschaft als Sammler, in der sie unter anderen gesellschaftlichen Umständen durchaus auch als Prestigeobjekt gelten könnte. Und zum dritten dient sie uns als Archiv für unsere gelegentlichen Gesellschaftsabende.«
»Als Archiv?« fragte Krates interessiert nach.
»Ganz recht. Du weißt ja selbst, wie schwer sich unsere Landsleute damit tun, die Erfahrungen anderer Völker zu Rate zu ziehen und sei es nur – oder vielleicht auch gerade – durch die Lektüre großer Denker und Philosophen. Viele unserer Senatoren glauben immer noch, dass nahezu jedes römische Problem einen Präzedenzfall darstellt. Und da haben wir nun ab und zu einen Senator von der Gegenpartei zu Gast, dem
wir dann mit Hilfe der Schriften aus unserer Bibliothek schwarz auf weiß belegen können, dass nahezu alles auf dieser Welt irgendwo und irgendwann schon einmal passiert ist. Und dass man das Rad nicht permanent neu erfinden muss, weil es nämlich längst existiert. Mir wird immer ganz anders, wenn ich daran denke, dass andere Völker unsere vermeintlichen Probleme längst gelöst haben. Wir Römer sollten endlich einmal lernen, die vorhandenen Lösungen anzuwenden, anstatt immer nur nach neuen zu suchen.«
»Einverstanden. Aber wäre es dann nicht sinnvoll, die Bibliothek ein bisschen mehr zu sortieren? Denn ihr werdet ja wohl kaum schon im Vorfeld wissen, welche Abhandlung ihr an welchem Abend braucht, nicht wahr?«
Cornelius verzog den Mund. »Weißt du, wie aufwendig das ist?«
»Oh ja«, lachte Krates. »Wir machen das gerade in Pergamon.«
»Na schön, du bist der Fachmann. Was soll ich tun?«
»Mir die Erlaubnis erteilen, deine Bibliothek neu zu sortieren.«
Cornelius strahlte ihn freudig an. »Das würdest du tun?«
»Nun«, erwiderte Krates beschämt, »es ist doch das mindeste, was ich machen kann, um dir meinen Dank auszudrücken. Außerdem sehne mich so sehr nach meiner Arbeit, dass es mir ein Vergnügen wäre, hier walten und schalten zu dürfen. Und wenn ich dir obendrein auch noch einen Gefallen damit erweisen kann, ist doch allen geholfen.«
»Brauchst du dazu irgendwelche Materialien?«
»Ich mache dir eine Liste«, sagte Krates geschäftig, während er zwischen den Regalen hin und her humpelte und sich schon mal mit dem Ausmaß der literarischen Verwüstung vertraut machte.
Am nächsten Tag überreichte er Cornelius seine Liste mit allem, was er für die insgesamt zweihundertvierundfünfzig Schriften benötigte und hatte sich sogar darüber Gedanken gemacht, wie man die Regale durch ein praktischeres Raumsystem neu verteilen und die Bibliothek insgesamt etwas zugänglicher gestalten könne. Der Schreiner, nach dem Cornelius hatte rufen lassen, erschien prompt am nächsten Morgen und so notierte ihm Krates mit Scipios dolmetschender Hilfe seine Vorstellungen in die Feder. Keine zwei Tage später waren die neuen Regale fertig und samt Arbeitstisch und den Stühlen, Schrän
ken und Kisten im Bibliotheksraum aufgestellt.
Krates widmete sich seiner neuen Aufgabe mit Inbrunst und freute sich jeden Morgen, wenn er nach seinem konsequenten Training die Bibliothek betrat. Die Arbeit machte gute Fortschritte und er wandte dabei das gleiche Konzept an, das sie auch in Pergamon benutzten. Scipio half ihm beim Wachsen der Papyri und beim Beschreiben der Regale und Holztäfelchen, so dass sie bereits nach einer Woche fertig waren.
Krates verbrachte eine weitere Woche damit, die neue Ordnung der Schriften leicht verständlich, in sich aber auch nahezu perfekt zu Ende zu bringen und konnte am Ende seinen Stolz kaum noch verbergen. Da er die allermeisten der hier untergebrachten Titel kannte, hatte er auf die Holztäfelchen der Schriftenkartei sogar ein paar Stichpunkte notiert, die dem Suchenden als Schlüsselinformationen dienen konnten. Cornelius war hellauf begeistert und schickte sofort Boten aus, um Crassus, Tiberius und Marcus zu einem Essen einzuladen und ihnen seine neue Bibliothek zu präsentieren. Sogar Livia kam vorbei und bewunderte die liebevolle Ordnung, die Krates in die ihm so vertrauten Schriften gebracht hatte.
»Sie mag dich«, zwinkerte ihm Scipio zu.
»Woher willst du das denn wissen?«
»Ganz einfach, weil sie es mir gesagt hat. Worum dich übrigens viele Männer beneiden dürften, denn Livia ist eine heißbegehrte Partie im Velabrum.«
»Aber was soll ich denn jetzt machen? Ich meine, selbst wenn ich frei beweglich wäre, wüsste ich nicht, was ihr Freude bereitet. Sie ist immerhin eine Römerin und offensichtlich von edler Abstammung.«
»Um die letzten beiden Punkte mach dir mal keine Sorgen, denn die macht sie sich auch nicht. Mann, Krates, fast beneide ich dich.«
»Kannst du mir nicht wenigstens einen Tipp geben?«
»Schwer zu sagen. Was kannst du denn alles?«
»Nun, ich kann reiten und philosophieren, Geschichten erzählen und Probleme lösen, mit Pneuma heilen und …«
»Pneuma?« hakte Scipio interessiert nach. »Was ist das denn?«
»Nun, ich bin sicher, dass ihr das kennt, auch wenn es bei euch anders heißen wird. Die Kunst des Pneuma ist ein altes Naturheilverfahren, das vor allem beim Militär zum Einsatz kommt, weil die Ärzte nach den Schlachten häufig überfordert sind oder das nötige Gerät nicht dabei haben.«
»Und du beherrschst diese Kunst?«
»Ich habe sie erst vor relativ kurzer Zeit erlernt, aber sie scheint mir zu liegen.«
Scipio überlegte kurz. »Wärest du bereit, unseren Nachbarn Aurelius zu behandeln?«
»Was hat er denn?«
»Ein chronisches Leiden im rechten Oberschenkel, das er seit seiner Verwundung im Krieg mit sich rumschleppt. Ein Pfeilschuss, von dem längst nichts mehr zu sehen ist. Aber Aurelius ist immerhin Livias Vater und vielleicht …«
Krates hatte verstanden und nickte belustigt.
Scipio versprach sich darum zu kümmern und tauchte erst wieder auf, als sich das Haus schon mit den ersten Gästen der Abendgesellschaft füllte. Die Senatoren Marcus und Tiberius freuten sich Krates wiederzusehen, auch wenn sie natürlich in der Zwischenzeit längst erfahren hatten, was geschehen war. Crassus nahm ihn zur Begrüßung herzlich in die Arme und beglückwünschte ihn zu dem guten Voranschreiten seiner Genesung. Auch Scipios Freund Terentius Afer war gekommen, ein junger Mann, der von der neu gestalteten Bibliothek überaus fasziniert war, wenn auch seine Begeisterung weniger dem Prestige als vielmehr den praktischen Vorteilen galt, durch die man die Bibliothek jetzt effektiver nutzen konnte.
Während des Gastmahls, das Krates wesentlich entspannter vorkam als bei ihrer ersten Begegnung, kamen sie unter anderem auch auf seine Forschungen zu sprechen. Krates erzählte von seinen Geographiestudien und geriet dabei so ins Schwärmen, dass ihn Crassus bat bei sich einen kleinen Vortrag zu halten, zu dem er eine Reihe interessierter Freunde einladen werde. Warum nicht, freute sich Krates über die willkommene Abwechslung und nahm dankend an.
Terentius hatte Krates während des Gastmahls eingeladen, ihn bei sich zu Hause zu besuchen und auch die Senatoren hatten ihn bestellt, damit er ihre Bibliotheken ebenso vorbildlich auf Vordermann brächte wie die seines Gastgebers. Allerdings hatte sich Cornelius dafür eingesetzt, dass Krates diesen Dienst nicht umsonst verrichtete, sondern eine Bezahlung von jeweils 250 Denaren erhielt. Als die Gäste endlich gegangen waren, nahm ihn Scipio beiseite und fragte ihn, ob er bereit wäre, Aurelius morgen Nachmittag zu behandeln. Krates willigte ein und ging schlafen.
Den folgenden Tag verbrachte er in der Bibliothek und beschloss ernsthaft Römisch zu lernen, denn er wollte wissen, was dieser Ennius geschrieben hatte. Nach dem Mittagessen bat er Silanos ihm bei einem der Schreiner eine Holzkugel zu besorgen, die mittig an einer Achse hängen und an einem Holzgestell befestigt werden sollte. Danach legte er sich für die verbleibenden zwei Stunden auf sein Bett, um sich für die bevorstehende Behandlung von Livias Vater genügend auszuruhen.
»Bist du bereit?« fragte ihn Scipio, als er ihn abholte.
»Auf geht’s. Ist Livia denn auch da?«
»Keine Ahnung«, log Scipio. »Aber so, wie ich sie kenne, wird sie sich das nicht entgehen lassen, weder die Heilung, noch den Heiler.«
Sie gingen die zwanzig Schritte zum Nachbarhaus und klopften an Aurelius’ Tor. Während sie auf der Straße warteten, fiel Krates auf, wie herbstlich es geworden war. Der kühle Wind trieb braune Blätter durch die Straßen und die Menschen schienen sich mit ihrer Kleidung längst auf den bevorstehenden Winter eingestellt zu haben. Das Leben zieht an mir vorüber, dachte Krates wehmütig, als sich vor ihnen das Tor öffnete und sie der Haussklave herein bat.
Der Aufbau von Aurelius’ Villa war im Grunde der gleiche wie der des Nachbarhauses. Nur die Einrichtung war anders und, wie Krates fand, auch ein wenig geschmackvoller. Aurelius hinkte ihm entgegen und begrüßte ihn in seinem stark akzentuierten Griechisch.
»Ärgerliche Sache, das mit deinem Bein.«
»Es gibt Schlimmeres«, lächelte Krates und setzte sich dankend auf den Stuhl, den ihm Livia anbot. »Aber wie ich hörte, hast du den gleichen Ärger.«
»Ganz recht«, bestätigte ihm Aurelius in einem Tonfall, der erahnen ließ, dass er es gewohnt war, Befehle auszusprechen, die andere befolgten. »Antiochos«, dröhnte er mit seiner Feldherrenstimme durch den Raum, »Antiochos und seine Seleukidenschweine haben mir das Bein zerfetzt, mit dem ich mich nun schon seit fünfundzwanzig Jahren durch die Welt der Invaliden schleppe. Möge der göttliche Mars sie alle verrecken lassen!«
Krates schwieg höflich und wartete auf eine Fortsetzung.
»Die Ärzte, die mich bisher behandelt haben, sind nichts als Quacksalber. Abschneiden, meinten sie, wäre die beste Lösung. Ha, die Pest soll sie holen!«
»Nun«, setzte Krates vorsichtig an, »abschneiden ist sicherlich die schlechteste Lösung. Da gibt es weitaus bessere.«
»Und keiner von ihnen konnte mir die Schmerzen nehmen. Heute ist es wieder ganz besonders schlimm.«
Aurelius schloss die Augen und massierte sich hilflos den rechten Oberschenkel. »Der junge Scipio hat mir ei
niges von dir erzählt. Wenn du also etwas für mich tun kannst, dann bitte ich dich, nimm mir die Schmerzen.«
»Ich will es gerne versuchen, aber erwarte keine Wunder von mir. Wenn dein Bein fünfundzwanzig Jahre Zeit hatte, um diesen Schmerz aufzubauen, werde ich es nicht an einem Nachmittag schaffen ihn dir restlos zu nehmen.«
»Ist gut«, sagte Aurelius leise und betrachtete ihn mit aufmerksamen Blicken.
Krates konzentrierte sich und fuhr mit seiner rechten Hand über die Beine des Aurelius. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als er über dem rechten Oberschenkel tastete und ließ ihn stöhnen. Er begann mit den Reinigungsbewegungen und schleuderte die Erinnerungen von Aurelius’ Seele weit von sich. Wieder und wieder tastete er über Aurelius’ Oberschenkel, um zu prüfen, ob der Schmerz schon nachließ und stellte langsam die ersten Anzeichen einer deutlichen Linderung fest. Anfangs hatte ihn Aurelius noch für die komischen Bewegungen belächelt, doch mittlerweile schien auch er zu spüren, dass sich etwas tat und wirkte zunehmend entspannter.
Nachdem Krates die gröbsten Spuren der Erinnerung entfernt hatte, betete er zu Zeus und bat um seine Kraft. Leise vor sich hinmurmelnd schickte er Aurelius das göttliche Licht und spürte deutlich den Zeitpunkt, an dem es aufzuhören galt.
Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Aurelius war ganz ruhig und atmete gleichmäßig ein und aus, strich sich über seine Oberschenkel und lächelte dabei selig vor sich hin. Krates dagegen schloss die Augen und spürte, dass er dem Mann wirklich geholfen hatte.
»Wie kann ich dir nur danken?« fragte Aurelius leise.
»Gibt es denn etwas, wofür du mir danken müsstest?«
»Es ist genau so, wie du gesagt hast. Die Schmerzen sind nicht weg, aber sie sind doch so gering wie schon seit Jahren nicht mehr. Und das …« Der alte Mann stockte und kämpfte gegen die Tränen. »… ist so wunderbar. Es ist ein Zustand der inneren Ruhe, wie ich ihn mir oft gewünscht, aber nur selten erreicht habe. Wo hast du diese Gabe erlernt?«
»Auf meiner Reise nach Pergamon. Der Weg durch den Tauros ist lang und unwegsam, aber das wirst du vielleicht aus deinen alten Kriegstagen noch
selbst wissen. Viele werden krank oder brechen sich die Knochen, werden von Wölfen angegriffen oder ertrinken in den reißenden Strömungen der zu überquerenden Flüsse. Ich hatte eine erfahrene Mannschaft junger Leute, die mich die Geheimnisse des Überlebens gelehrt haben. Und dazu gehörte auch die Kunst des Pneumas.«
Aurelius nickte nachdenklich und rief seinen Dienern zu, sie mögen Wein bringen, was Scipio und Livia, die sich im Hintergrund hielten, in stilles Erstaunen versetzte. Der Nachmittag ging in die Abenddämmerung über und die Haussklaven zündeten die Fackeln und Lampen an. Aurelius hatte Livia und Scipio gebeten, sich zu ihnen zu setzen und so führten sie ein angeregtes Gespräch über die Geschichte Roms.
»Es ist jammerschade«, beteuerte Krates, »dass ich von dieser Stadt noch immer so gut wie nichts gesehen habe. Aber vielleicht«, fuhr er fort und bemühte sich dabei seine Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, »könnte mich ja Livia ein bisschen herumführen?«
Livia strahlte und blickte ihren Vater bittend an.
»Aber ja doch«, lächelte Aurelius, »warum nicht?«
»Wie wäre es mit morgen früh?« schlug Livia vor.
»Von mir aus gerne«, antwortete Krates.
»Ich werde dich abholen«, versprach Livia.
»Bis morgen dann«, schloss er und erhob sich, um mit seinen Krücken zum Haus des Cornelius zurück zu humpeln.
»Mann, Krates!« lachte Scipio. »Es sollte mich ernsthaft wundern, wenn du morgen von der Stadtführung auch nur das Geringste mitbekommst.«
Krates’ Lächeln wich einem jähen Entsetzen. »Meinst du, sie macht einen Rückzieher?«
Scipio schüttelte sich vor Lachen und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Wahrlich, Krates, ich beneide dich!«
Als Livia am nächsten Morgen gegen seine Tür klopfte, war Krates längst angezogen. Er hatte die halbe Nacht über nicht schlafen können und sich immer wieder gefragt, ob sie ihn wirklich versetzen könnte. Aber nun war sie da und er freute sich umso mehr. Gemeinsam verließen sie das Haus und folgten der
kleinen Gasse am Fuße des Kapitols bis zum Nordende des Forum Romanum. Anfangs erklärte ihm Livia noch die Geschichte des Senaculums, in dem sich die Senatoren vor ihren Anhörungen und Ratssitzungen trafen. Sie erzählte ihm die Legenden, die sich um das kleine und gedrungen wirkende Gefängnis spannten und zeigte ihm die Basilica Sempronia zwischen den beiden Tempeln des Saturn und der Dioskuren. Krates lauschte ihr aufmerksam, war aber viel mehr noch damit beschäftigt ihre Nähe zu genießen. Livia schien es ähnlich zu gehen, denn sie kam zunehmend ins Stocken und wurde immer wieder rot, wenn sie sein einnehmendes Lächeln sah.
Schließlich war es mit ihrer Haltung vorbei. Sie wandte sich ihm offen zu und blickte lange in seine braunen Augen. Ohne auch nur ein einziges Wort sagten sie sich in diesem Moment alles, was es zu sagen gab. Krates humpelte verlegen auf sie zu und nahm sie unbeholfen in die Arme. Für einen kurzen Moment hielt er inne, doch sie erwiderte die Umarmung und drückte ihn fest an sich. Lange Zeit standen sie so da, bis er seinem inneren Impuls folgte und zärtlich ihren Kopf nahm.
»Tu’s doch einfach«, hauchte sie benommen, als sie sein Zögern bemerkte und Krates spürte die mächtige Woge seiner Gefühle über sich zusammenbrechen. Sie küssten sich lang und leidenschaftlich. Dem Kuss folgte ein langer Blick, aber es gab nichts, was sie zu bereuen hatten und so küssten sie sich wieder und wieder. Und jedes Mal durchfuhr sie ein neuer Schauer des Glücks, der sie innerlich zum Beben
brachte und ihre Herzen einen Sprung aussetzen ließ.
Wie in Trance wankten sie in den Garten des Senaculums und setzten sich unter die uralten Platanen.
»Ich glaube fast«, stammelte Krates und bettete sein Haupt in ihren Schoß, »du magst mich wirklich.«
Livia strahlte ihn glücklich an. »Du bist genau der Mann, Krates, den ich mir immer gewünscht habe.«
Ihre tiefe Stimme und der rauchige Akzent ihrer griechischen Aussprache hallten in seinen Ohren nach. Krates schloss die Augen und umklammerte selig ihre linke Hand, während sie ihm mit der Rechten zärtlich durchs Haar fuhr. Scipio hatte Recht behalten, denn vom Forum Romanum hatte Krates tatsächlich nichts mitbekommen. Doch dafür hatte er etwas viel Wichtigeres gefunden: Das Glück der Liebe.